Es fehlt an überzeugenden Akteuren
Es war nur ein Versprecher der Moderatorin. Doch dass er bei der Münchner Sicherheitskonferenz eine Woche vor der Bundestagswahl auf der Bühne schon als „Kanzler“ begrüßt worden war, dürfte Friedrich Merz durchaus geschmeichelt haben. Dass seine Union die Wahl gewinnt, daran gab es seit Wochen kaum mehr einen Zweifel, die Frage war nur noch: wie hoch? Steht die 30 im Wahlergebnis der Union? Oder rutscht sie in den 20er-Bereich? Am Ende konnte Merz die 30er-Marke nicht überspringen. Das Ergebnis war ein „ja, aber“ der Wähler und damit ein Hinweis darauf, dass der Spitzenkandidat nicht das kräftigste Zugpferd für seine Partei war.
Gemessen am Frust, den die Ampel-Regierung verursacht hat, hätte das Ergebnis von CDU und CSU durch die Decke gehen müssen. Wahlsieger Merz hat vor allem ein Sympathieproblem bei Frauen, bei ihnen schnitt er noch schlechter ab als bei männlichen Wählern. „Wirklich ungewöhnlich ist, dass alle Kandidaten so unbeliebt sind“, sagte Roland Abold, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstitutes Infratest dimap, in einem Interview der Stuttgarter Zeitung. „Das dürfte dazu beitragen, dass kaum eine Partei weit über die eigene Klientel hinaus Wähler anzieht.“ Dass die Union in die Nähe der 30 Prozent gekommen ist, hat sie auch den Ergebnissen in Bayern (Markus Söder) und Nordrhein-Westfalen (Hendrik Wüst) zu verdanken. Und der Tatsache, dass auch die anderen Kanzlerkandidaten bei vielen Wählerinnen und Wählern eher unbeliebt waren. Sogar der Linke Gregor Gysi hatte im Forsa-Ranking einen höheren Vertrauenswert als Scholz, Merz, Habeck und Weidel.
Die Ruhe in der SPD ist vorbei
Für die Sozialdemokraten war der Wahlabend besonders bitter, ihr Sturz ist tief. Die SPD erzielte das schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl und untertraf damit noch ihr Ergebnis aus dem Jahr 2017 (20,5 Prozent). Es dürfte nicht lange dauern, ehe in der Partei wieder Debatten beginnen, ob die logische Konsequenz aus diesem Ergebnis nicht sein müsste, sich selbst in der Opposition zu erneuern und nicht erneut in eine Regierung einzutreten. Mit einer kurzen Unterbrechung (2009 bis 2013) hat die SPD seit 1998 mitregiert. Damals kam die Partei noch auf 40,9 Prozent der Stimmen, seither geht es rasend schnell bergab. Dass Unions-Kandidat Merz in den vergangenen Wochen die Sozialdemokraten immer wieder scharf angegangen war, dürfte deshalb ein willkommenes Argument einiger Mitglieder gegen eine Regierungsbeteiligung sein. Denn Stillhalten gehört nicht gerade zu den Kernkompetenzen der Sozialdemokraten. Mehrere SPD-Politiker haben bereits gefordert, dass die Parteibasis das letzte Wort zu einer möglichen Koalitionsbeteiligung hat. Die werden dann vor dem Dilemma stehen, ob sie Deutschland wirklich eine quälend lange Regierungsbildung zumuten wollen. Auch personell dürfte bei den Sozialdemokraten nach diesem Ergebnis kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Noch-Kanzler und Spitzenkandidat Olaf Scholz wird nach der historischen Niederlage in einer nächsten Regierung keine Rolle mehr spielen. Doch was ist mit den Parteichefs Lars Klingbeil und Saskia Esken? Klingbeil zumindest hat sein politisches Überleben gesichert und noch am Abend verkündet, dass er Rolf Mützenich als Fraktionsvorsitzender ablösen wird. Die große Stunde könnte für Verteidigungsminister Boris Pistorius schlagen, den immer noch beliebtesten Politiker Deutschlands.
Die AfD als Machtfaktor
Die AfD hat in diesem Wahlkampf noch nicht einmal den Versuch unternommen, sich als gemäßigt zu präsentieren. Im Gegenteil: Spitzenkandidatin Alice Weidel provozierte, sie verbreitete Falschaussagen, sie kokettierte mit dem Extremismus der eigenen Partei. Und doch gelang ihr etwas, vor dem sich viele ihrer politischen Gegner gefürchtet hatten: die Normalisierung der AfD. Mit einem Stimmanteil von rund 20 Prozent ist sie nicht nur mehr als doppelt so stark wie noch 2021, sie reicht damit auch weit in bürgerliche Wählerschichten hinein. Das hängt auch mit diesem Wahlkampf zusammen. Für die Partei hat es sich geradezu als Meisterstück erwiesen, Weidel zur Kanzlerkandidatin zu küren. Zwar dürften noch nicht einmal die größten Optimisten geglaubt haben, dass die 46-Jährige die Nachfolge von Olaf Scholz antritt. Doch der Status bescherte ihr Öffentlichkeit. Weidel war in den TV-Wahlsendungen vertreten, sie gab Interviews, wurde in Porträts beschrieben.
Wichtiger für jenen Teil der AfD-Wählerschaft, der den etablierten Medien misstraut, waren aber ihre Internet-Aktivitäten wie die Diskussion mit dem Tech-Milliardär Elon Musk. Dass sich mit J.D. Vance sogar ein US-Vizepräsident für sie starkmachte, hätte sich die AfD vor einigen Jahren wohl nicht einmal in den kühnsten Träumen vorstellen können. Warnungen etwa aus der Wirtschaft und von den Kirchen verfangen längst nicht mehr. Geholfen hat der Partei, dass das Thema Migration erneut einen so großen Raum in der öffentlichen Debatte eingenommen hat. Im nächsten Bundestag wird die AfD die größte Oppositionspartei sein. Doch sie träumt von mehr. Die Bundestagswahl 2029 soll noch besser laufen. Dann setzt die „Alternative“ voll auf Sieg. Sie gilt als Gewinnerin im Wartestand.

Die Sache mit dem Wählerwillen
„Wir werden unter keinen Umständen, unter keinen Umständen, irgendwelche Gespräche, geschweige denn Verhandlungen oder gar Regierungsbeteiligungen mit der AfD besprechen. Das kommt nicht infrage.“ - Die Worte von Friedrich Merz bei seinem letzten Wahlkampfauftritt sind ein klares Bekenntnis. Doch die Brandmauer-Debatte dürfte in den kommenden Jahren immer wieder aufflammen, vor allem dann, wenn es um das Thema Migration geht. Merz selbst hat eine Grauzone geschaffen, indem er Stimmen der AfD zumindest billigend in Kauf genommen hat. Alice Weidel stellte noch am Abend klar: „Unsere Hand wird immer ausgestreckt sein für eine Regierungsbeteiligung, um den Willen des Volkes, den Willen Deutschlands umzusetzen.“ Widerspricht es nicht tatsächlich dem Wählerwillen, eine Partei bewusst auszuschließen, die mehr als 20 Prozent der Stimmen hat (im Osten sogar noch deutlich mehr) und in manchen Punkten zumindest ähnliche Positionen vertritt wie die künftige Kanzlerpartei? Zumindest diese Frage kann mit einem klaren Nein beantwortet werden. Das deutsche politische System sieht explizit vor, dass jeder, der regieren will, auch imstande sein muss, sich Mehrheiten zu organisieren. Das gelingt nicht immer. Ein Beispiel: Im Jahr 1969 gewann die Union zwar die Bundestagswahl, fand sich aber am Ende in der Opposition wieder, weil SPD und FDP eine Regierung bildeten. Kritischer zu sehen ist hingegen, dass bei dieser Wahl besonders viele Wählerstimmen verlorene Stimmen waren, weil sie bei Parteien gelandet sind, die es nicht über die Fünf-Prozent-Marke geschafft haben. Dabei war die Wahlbeteiligung mit 84 Prozent so hoch wie seit der Deutschen Einheit nicht.
Ein echter Politikwechsel wird schwieriger
Es war das Mantra des Wahlabends: Die Wähler hätten sich für einen Politikwechsel entschieden. Es dürfe kein „weiter so“ geben. Doch die schwierige Suche nach tragfähigen Mehrheiten und nach einem politischen Partner, der grundlegende Reformen auch mitträgt, macht das zu einem gewagten Versprechen. Auch die Ampel war mit dem Schwur gestartet, ein Zeichen der Erneuerung zu setzen – und scheiterte schließlich an zu großen Unterschieden zwischen den drei Parteien. Nun hat Friedrich Merz die Erwartungen seiner Anhänger hochgeschraubt, er hat den Eindruck vermittelt, er werde quasi durchregieren. Die Kernthemen Wirtschaftspolitik und Migration wären selbst bei Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD kein Selbstläufer. Außerdem will Merz eine Reihe von Ampel-Entscheidungen rückgängig machen, etwa das Heizungsgesetz, die Cannabis-Legalisierung, auch an das Bürgergeld will er ran. Hinzu kommt, dass sowohl die Union als auch die SPD vor dem Hintergrund dieses Wahlergebnisses eigentlich ihr Profil schärfen müssten, Kompromisse werden damit erschwert. Hinzu kommt die schwierige finanzielle Lage, die auf eine außerordentlich komplexe weltpolitische Situation trifft und Sonderwünsche noch unwahrscheinlicher macht. Dem Land könnten also wieder lähmende Wochen bevorstehen.
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