Dann haben sie es plötzlich eilig und marschieren durch. Zum Ausgang. Vorbei am Tresen, wo Termine vereinbart werden können. Raus zur Tür. Runter aus dem dritten Stock. Weg. Ob sie wieder kommen? Oft nicht. Ein Rezept gegen die aktuellen Beschwerden hat man ja. Passt.
Dabei hat es Robert Glötzinger wirklich nur gut gemeint. Der 62-Jährige ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass er Patienten direkt ansprechen muss. „Je direkter, desto besser.“ Was sehr oft klappt, sei ein Vergleich: „Ihr Auto muss doch auch zum TÜV. Das gilt auch für Ihren Körper.“ Regelmäßig durchchecken lassen. Blutwerte. Herzleistung. Doch die Angst, dass da was rauskommen könnte, ist groß, weiß der erfahrene Allgemeinmediziner, der seit 30 Jahren in Gersthofen im Landkreis Augsburg seine Praxis hat. Vor allem bei Männern. Oft ist sie so groß, dass sie erst gar keine Untersuchung machen lassen. Dem freundlichen Hausarzt wird zwar meist noch erklärt, ja, ja, man mache einen Termin, muss aber erst den eigenen Terminkalender prüfen, doch dann eilen sie hinaus. Ohne Termin.
Männer sind häufiger von schweren Erkrankungen betroffen
Nein, das hier ist kein Männer-Bashing. Ganz im Gegenteil. Die Lage ist ernst. Geht es um die Männergesundheit, gibt es Anlass zur Sorge. Das belegen Zahlen. Von Herzinfarkt über Schlaganfall bis hin zur Lungenerkrankung COPD und Darmkrebs: Männer in Deutschland sterben im Schnitt fünf Jahre früher als Frauen und sind zudem häufiger von schweren Erkrankungen betroffen, meldet der Bundesverband der Krankenkasse AOK. Die AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reimann sieht bei der Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen eine große Lücke zwischen den Geschlechtern und vermutet, dass bei Männern „die Themen Gesundheit, Arztbesuche und Prävention oft noch eine Tabu-Zone“ zu sein scheinen. Aber warum?
Antworten auf diese Frage hat Anne Maria Möller-Leimkühler. Die Professorin forscht an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität in München seit Langem über die psychische Gesundheit von Männern. Denn auch bei psychischen Erkrankungen gibt es Unterschiede zwischen Frauen und Männern: Depressionen beispielsweise werden bei Männern oft gar nicht erkannt. Mit erschreckenden Folgen: Depressionen zählen, wie Möller-Leimkühler erklärt, zu den Hauptursachen für Suizide. Geschätzt 70 bis 80 Prozent der Selbstmorde gehen auf psychische Erkrankungen und hier vor allem auf Depressionen zurück. Die Suizidrate bei Männern sei dreimal so hoch wie bei Frauen, doch die Diagnose Depression werde bei Männern nur halb so häufig gestellt wie bei Frauen. „Da kann also etwas nicht stimmen. Das heißt, wir haben bei Männern eine enorm hohe Dunkelziffer an unerkannten Depressionen.“ Zumal sich Depressionen bei Männern oft ganz anders zeigen können als bei Frauen. Beispielsweise hinter verstärkter Aggressivität und Reizbarkeit, einem erhöhten Alkoholkonsum, übermäßigem Arbeiten, extensivem Sporttraining, aber auch Internet- oder Sexsucht könne eine Depression stecken, weiß Möller-Leimkühler.
Ältere, alleinstehende Männer sind besonders gefährdet
Eine Hochrisikogruppe, die viel zu wenig beachtet werde und bei der die Suizidrate steil nach oben gehe, seien ältere, alleinstehende Männer. Hier sieht die Sozialwissenschaftlerin besonders hohen Handlungsbedarf, denn gerade diese Männergeneration habe nie gelernt, über ihre Gefühle zu sprechen und sich Hilfe zu holen. Vielmehr seien ältere Männer so sozialisiert, dass sie stets die Starken sein, alles mit sich allein ausmachen müssen und nie Schwäche zeigen dürfen. Ein veraltetes Rollenbild, klar. Doch diese Stereotypen sitzen nach Einschätzung von Möller-Leimkühler tief. Sehr tief. Auch Männer im mittleren Alter und Jüngere haben diese Bilder verinnerlicht, sagt sie und verweist auf viele Studien. Zwar verändere sich das Männerbild, doch darauf zu setzen, dass Jüngere automatisch offener ihre Gefühle und damit auch ihre gesundheitlichen Probleme kommunizieren und angehen können, sei nicht zwingend. „Denn aktuell bröckelt zwar das Bild vom starken Mann, doch das führt vor allem zu einer großen Verunsicherung.“ Jüngere Männer sind für sie daher besonders vulnerabel, also gefährdet. Doch was schlägt sie vor? Was muss sich ändern?
Es sei nicht leicht, betont die Wissenschaftlerin. Was sie sich wünscht, ist eine stärkere Ausrichtung der gesundheitlichen Versorgung auch speziell auf männliche Bedürfnisse. So sieht sie beispielsweise schon in der Gestaltung von Arztpraxen oft Nachholbedarf: „Die Wartezimmer sind in der Regel auf weibliche Patientinnen ausgerichtet, was man schon am Leseangebot sieht. Aber auch die Bilder und die Farbgestaltung der Wände sind oft sehr feminin. In Großbritannien beispielsweise ist man da experimentierfreudiger und hat manche Praxis ähnlich einer Bar eingerichtet - was sicher auch viele Patientinnen nicht abschreckt.“ Und sie habe einen gendersensiblen Fragebogen speziell zum Erkennen von Depressionen bei Männern entwickelt und getestet, der in jedem Wartezimmer schnell ausgefüllt werden kann.
In Australien sind „Männerschuppen“ erfolgreich
Gerade mit Blick auf die ältere Generation findet die Sozialwissenschaftlerin so genannte „Männerschuppen“, wie sie in Australien erfolgreich angeboten werden, eine gute Idee. Männer im Ruhestand treffen sich dort regelmäßig, um gemeinsam handwerklich aktiv zu sein und kommen miteinander ins Gespräch. Denn es habe sich gezeigt, dass Männer eher über sich reden, wenn sie aktiv etwas tun oder Sport treiben. Auch werde so der Einsamkeit, die gerade viele alleinstehende ältere Männer quält und ernsthaft krank werden lassen kann, etwas entgegengesetzt. Wenn dann Beratungspersonen immer wieder mal dabei sind und spezielle Themen sensibel ansprechen, öffnen sich viele und rücken mit ihren Problemen raus. Auch in Betrieben wünscht sich Möller-Leimkühler mehr Gesundheitsangebote für Männer, „denn dann fällt schon die Hürde, extra in eine Arztpraxis gehen zu müssen, weg“.
Dr. Tobias Jäger geht einen anderen Weg. Der Urologe veranstaltet regelmäßig Schülertage in seiner Praxis in Essen. Denn er sieht ein anderes Problem: Während Frauen eine kontinuierliche gesundheitlichen Versorgung haben, indem sie ab einem bestimmten Alter vom Kinderarzt meist automatisch zum Gynäkologen beziehungsweise zur Gynäkologin wechseln und dort im besten Fall künftig ihre Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen, fallen junge Männer in eine Versorgungslücke: Sind sie zu alt für den Kinderarzt, gingen sie meist zu gar keinem Arzt mehr. Und das nicht selten über Jahre. Auch, wenn der Körper signalisiert, dass was nicht stimmt, sprich schmerzt. Während Frauen bei leichten Beschwerden, wenn sich keine Besserung einstellt, nach etwa zwei bis drei Wochen einen Arzt aufsuchen, „gehen Männer auch bei Schmerzen im Schnitt erst nach zwei, drei Jahren zum Arzt“. Männer seien wirkliche Meister im Verdrängen.
Dass viele Männer im jungen und mittleren Alter nicht regelmäßig zum Urologen gehen, bereitet Jäger aber noch aus anderen Gründen große Sorgen: Die häufigste Tumorart im Alter zwischen 16 und 44 Jahren ist Hodenkrebs. Die gute Nachricht: Hodenkrebs ist in aller Regel heilbar. Voraussetzung: Er muss erkannt werden. Doch wo kein Arzt, da keine Diagnose. Daher versucht Jäger, der auch im Vorstand der „Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit“ und Autor des Buches „Männergesundheit“ ist, schon Buben im Alter von 12, 13 Jahren über die Wichtigkeit des Besuchs beim Urologen aufzuklären. „Vor allem will ich ihnen die Angst nehmen, indem sie einfach mal hinter die Kulissen von so einer Praxis schauen können und sehen: ist doch gar nicht schlimm dort.“
Es gibt eine neue Empfehlung zur Prostata-Vorsorge
Jäger will also, dass auch Mann früh weiß: für meine Gesundheit kann und sollte ich etwas tun. Wie beim Thema Hodenkrebs: So wie Frauen empfohlen wird, sich regelmäßig die Brüste nach Knoten abzutasten, sollten Buben und Männer ihre Hoden abtasten, erklärt Jäger. Und klar: bei Auffälligkeiten oder Schmerzen hilft nicht verdrängen, sondern ein Arztbesuch. Der Urologe hat aber auch noch eine gute Nachricht bei einem Problem, das viele Männer belastet: die Prostata. Nach dem neuesten Stand, bringe die rektale Untersuchung gegenüber dem PSA-Bluttest keine Vorteile zum Erkennen von Prostatakrebs. Eine Blutabnahme reiche also. Allerdings, so Jäger, sollte die nicht erst im Alter erfolgen, sondern regelmäßig schon etwa ab dem 40. Lebensjahr, da beim Erkennen von Prostatakrebs die Entwicklung des PSA-Wertes über einen längeren Zeitraum entscheidende Hinweise liefere.
Und dann gibt es da noch Probleme, über die Mann eigentlich gar nicht sprechen will, erklärt Jäger. Und die meisten Männer reden auch erst, wenn es sie wirklich massiv belastet. Erektionsstörungen. Das Thema ist Jäger so wichtig, weil viele nicht wüssten, dass dahinter oft andere, auch schwerere organische Erkrankungen stecken können. Nicht selten suchten Männer im Internet nach Abhilfe und besorgten sich Präparate, die hoch gefährlich sind, weil niemand deren Qualität überprüfe. Dabei müsse mittels Ultraschall geschaut werden, ob eventuell Durchblutungsstörungen vorliegen, die im schlimmsten Fall auch das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erhöhen. Und auch eine Blutuntersuchung sei wichtig, so Jäger, da nicht selten Diabetes oder eine andere Erkrankung die Ursache für die Probleme sei.
Potenzprobleme sind das heikelste Thema
Dr. Robert Glötzinger weiß, wie schwer sich Männer sehr oft tun, über ihre gesundheitlichen Probleme zu reden. Potenzprobleme seien freilich das aller Heikelste. Nicht selten kämen die Männer vordergründig wegen anderen Beschwerden in seine Praxis – gerne Rücken – und versuchen dann ganz nebenbei das eigentliche Leiden anzusprechen. Doch Glötzinger ist erfahren, aber auch empathisch genug, um in vielen Fällen zu erkennen, wo der Schuh wirklich drückt. Der Allgemeinmediziner versteht es vor allem, seine Patienten – aber natürlich auch seine Patientinnen – in ein vertrauensvolles Gespräch zu bringen. „Denn das Vertrauen ist das A und O“, weiß er. Das kostet Zeit. Zeit, die er sich dann aber auch nehme. Viele könne er so knacken. Doch leicht, das sagt auch er, ist es mit Männern oft nicht.
Dabei ist Glötzinger wirklich ein Typ, der sehr kumpelhaft, sehr offen rüberkommt. Und er hat Themen, über die er mit vielen Männern sprechen kann, die ihn sicher für viele zugänglicher machen, ist er doch auch Sportmediziner, hat über viele Jahre nicht nur unter anderen die Mannschaften des FCA und des AEV ärztlich betreut, sondern ist auch selbst leidenschaftlicher Sportler. In seinem Sprechzimmer stehen nicht nur die üblichen Wirbelsäulenmodelle, es hängt dort auch ein Bild von ihm mit seinen Tenniskollegen.
Der Hausarzt beobachtet eine Besorgnis erregende Entwicklung
Doch auch beim Thema Sport und Bewegung habe man es bei vielen Männern immer schwerer, sagt Glötzinger. Er beobachtet eine Besorgnis erregende Entwicklung gerade bei jüngeren Männern: „Die Gesundheit wird immer öfter als etwas gesehen, das man sich einfach kaufen kann. Man geht in die nächste Apotheke oder ins Internet und besorgt sich irgendein Mittel. Viele denken wirklich, damit ist es getan.“
Glötzinger bringt dann gerne das Beispiel mit dem Zähneputzen und fragt: Sie putzen sich doch auch täglich zweimal die Zähne, oder? Haben aber keine Zahnschmerzen. Man macht es als Vorsorge. Und so müssen nicht nur die Zähne, sondern eben der ganze Körper gepflegt werden. Mit Bewegung. Mit einer ausgewogenen Ernährung. Und: Indem man sich regelmäßig durchchecken lässt. Doch gerade um den Checkup machten viele einen Bogen.
Was helfen kann: Oft sind es die Frauen. Urologe Jäger erlebt es häufig, dass die Partnerinnen ihre Männer nicht nur zu ihm schicken, sie machen gleich die Termine aus. Auch bei Hausarzt Glötzinger stecken sehr oft die Partnerinnen dahinter, wenn der Mann in der Sprechstunde sitzt. Es ist ja auch längst erwiesen, wie Möller-Leimkühler sagt: „Männer profitieren von einer Ehe oder Partnerschaft gesundheitlich wesentlich stärker als Frauen.“ Einfach in der Arztpraxis ohne Termin für den Checkup wegzulaufen, funktioniert dann oft nicht, zumindest nicht langfristig, denn da ist jemand, der nachhakt...
Dieser Artikel zählt zu unseren Favoriten aus dem Jahr 2024. Er stammt aus dem Archiv, aber wir wollten Ihnen die Lektüre noch einmal ans Herz legen. Zuerst wurde er am 26. Oktober 2024 veröffentlicht.
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