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Zu viel Zeit vor Handy und Computer macht dick: Wie bringen wir Kinder in Sport und Alltag in Bewegung?

Kindergesundheit

(K)ein Kinderspiel: Eine Ärztin will alle Kinder in Bewegung bringen

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    Dr. Nandi Jain will Kinder bewegen: Die Allgemeinärztin aus Würzburg setzt auf einfache Bewegungsspiele aus ihrer Kindheit, die mit wenig Aufwand und viel Spaß auch weniger sportbegeisterte Kinder in Bewegung bringen.
    Dr. Nandi Jain will Kinder bewegen: Die Allgemeinärztin aus Würzburg setzt auf einfache Bewegungsspiele aus ihrer Kindheit, die mit wenig Aufwand und viel Spaß auch weniger sportbegeisterte Kinder in Bewegung bringen. Foto: Nandi Jain/Arne Dedert, dpa

    Sonntagmorgen im Spieleparadies: Neugierig drängen sich Kinder vor dem Eingang zum Indoor-Spielplatz in Ingolstadt. Emily feiert ihren neunten Geburtstag und lädt ihre fünf besten Freunde ein. Schuhe haben sie gegen rutschfeste Socken getauscht, ihre Jacken hängen in der Umkleide. Schnell die Eintrittskarte vorzeigen, dann stürmen sie los. Hier geht es um alles: Wer springt am höchsten auf dem Trampolin? Wer turnt flink durchs Kletterlabyrinth? Und wer steigt auf den riesigen Klettervulkan und traut sich die steile Rutsche hinunter? Toben, spielen, klettern stehen auf dem Programm – und das stundenlang. Kinder sind von Natur aus aktiv und wollen Neues entdecken. Im Alltag zwischen Schule und Ganztagsbetreuung haben sie jedoch immer seltener Gelegenheit dazu. Und selbst in der quietschbunten Welt im Indoor-Spielplatz lauert an diesem Tag das, was Experten „Bewegungskiller“ nennen.

    Die Zahlen sind alarmierend: Nicht einmal 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland bewegen sich genug. Das ist das Ergebnis der Untersuchung „Health Behaviour in School-aged Children“. Knapp 6500 Schüler bundesweit haben Forscher 2022 für die Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) befragt. Nur jedes zehnte Mädchen und jeder fünfte Junge zwischen elf und 17 Jahren schaffen es, sich täglich 60 Minuten in mittlerer bis hoher Intensität zu bewegen. Für jüngere Kinder liegen aus früheren Untersuchungen ähnliche Zahlen vor.

    Die WHO empfiehlt: So viel Bewegung brauchen Kinder

    • Säuglinge sollten mehrmals am Tag körperlich aktiv sein, vor allem durch interaktives Spielen auf dem Boden. Sind sie noch nicht mobil, sollten sie über den Tag verteilt mindestens 30 Minuten in Bauchlage spielen, während sie wach sind.
    • Kleinkinder zwischen einem und zwei Jahren sollten sich über den Tag verteilt mindestens 180 Minuten bewegen. Das kann Bewegung in beliebiger Intensität bis hin zu starker körperliche Aktivität sein – je mehr, desto besser.
    • Kleine Kinder im Alter von drei bis vier Jahren sollten mindestens 180 Minuten Bewegung am Tag erreichen, davon mindestens 60 Minuten in mäßiger bis starker Intensität – je mehr, desto besser.
    • Schulkinder und Jugendliche sollten sich über die ganze Woche im Schnitt mindestens 60 Minuten pro Tag mäßig bis stark körperlich betätigen. Drei Mal die Woche sollten sie Sport zur Kräftigung von Muskeln und Ausdauer machen.

    Entwicklung aus der Corona-Zeit: Mehr als 80 Prozent der Kinder bewegen sich zu wenig

    Dilek Önaldi-Gildein beobachtet die Entwicklung mit Sorge. Zwar stammen die Erhebungen aus Corona-Jahren. Doch es habe sich wenig geändert, sagt die Münchner Kinderärztin. „Kinder und Jugendliche sitzen immer mehr vor Bildschirmen und gehen nicht mehr raus.“ In Zeiten der Lockdowns sei eine Hemmschwelle gefallen: Eltern gewährten ihren Kindern viel Zeit vor Computer, Tablet oder Handy, weil sie sie nicht anders zu beschäftigen wussten – mit Folgen bis heute. „Sport und Bewegung gehören einfach nicht mehr zum Alltag.“ Echte körperliche Aktivität finde allenfalls im Sportverein statt, doch längst nicht alle Kinder fänden Zugang dazu. Und Bewegung fällt auch deshalb weg, weil Eltern ständig Fahrdienste mit dem Auto übernehmen: zur Schule, zu Freunden, auf den Spielplatz und sogar zum Sport.

    Oder eben zum Indoor-Spielplatz. Wer dort wie Emily einen Kindergeburtstag feiert, sitzt in einem eigenen Bereich mit dekoriertem Geburtstagstisch. Zum Sitzen gibt es überhaupt viel Gelegenheit: Knapp zwei Drittel der Spielhalle bestehen aus Gastronomie und Esstischen. Das Geburtstagsmenü bietet Pommes wahlweise mit Fischstäbchen, Wienerle oder Chicken Nuggets. Gesessen wird auch im Kinosaal, im Bastelraum, auf der Kinderkartbahn. Und an den vielen Spielecomputern, die überall in der Halle um Aufmerksamkeit blinken. So ausgelassen die Kleinen hüpfen, klettern und rennen, so starr fixieren sie im nächsten Moment, was sich auf dem Bildschirm tut.

    Dabei ist Bewegung gerade im Kindesalter wichtig. Aus der Forschung ist bekannt, dass sie nicht nur die körperliche und geistige Entwicklung fördert und Kinder in der Schule leistungsfähiger macht. Regelmäßige Bewegung in jungen Jahren trägt auch dazu bei, dass sich Menschen im Erwachsenenalter mehr bewegen und damit auch gesünder bleiben.

    „Schule ist eines Tages vorbei, Sport ein Leben lang wichtig. Das zu beherzigen, fällt vielen Familien schwer.“

    Dr. Dilek Önaldi-Gildein , Kinderärztin aus München

    Je älter die Kinder werden, desto weniger bewegen sie sich, haben Studien gezeigt. Besonders auffällig sei das nach der Grundschulzeit, sagt Önaldi-Gildein, die auch Sprecherin der bayerischen Kinder- und Jugendärzte ist: „Steigen die Anforderungen, sitzen Kinder nicht nur länger an Hausaufgaben. Infolge geistiger Arbeit suchen sie auch Erholung eher in Online-Spielen als in körperlicher Bewegung.“ Neben digitalen Medien sei Leistungsdruck ein großer Bewegungskiller: Läuft es mit den Noten nicht, kürzen Eltern oft an den Hobbys der Kinder, sagt die Kinderärztin. „Dabei ist die Schule eines Tages vorbei, Sport aber ein Leben lang wichtig. Das zu beherzigen, fällt vielen Familien schwer.“ Gerade in sozioökonomisch schwächeren Milieus sei der Bildungsgedanke so ausgeprägt, dass Sport und Bewegung hintangestellt würden.

    Rezept für Bewegung: Kinderärzte können Kindern seit Jahresbeginn Sport „verordnen“

    Ursachen für Bewegungsmangel im Kindesalter gibt es also viele. Wie aber gegensteuern? Die jüngste Initiative gibt es vom Deutschen Olympischen Sportbund und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärztinnen: Seit Jahresbeginn können Ärzte Kindern ein „Rezept für Bewegung“ ausstellen. Sie vermerken, wie viel Bewegung das Kind im jeweiligen Alter braucht und welche Art von Bewegung ihm besonders fehlt. „Der Auftrag ist klar: Mit einem QR-Code kommen Eltern direkt auf eine Übersicht, welche Bewegungsangebote es in ihrer Nähe gibt“, sagt Önaldi-Gildein. Die Kosten für Sportkurse übernimmt nur in manchen Fällen die Krankenkasse. Die Kinderärztin baut aber auf die Symbolwirkung des Rezepts und will Familien gegenüber ein Zeichen setzen.

    Genau das beabsichtigte wohl Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, als er 30 Minuten Bewegung am Tag für alle Grundschüler forderte. „Sport ist zentral wichtig“ lautete die Botschaft. Der CSU-Chef sagte: „Kinder sollen sich bewegen, in welcher Form auch immer.“ Wie seine Idee an den Schulen konkret umzusetzen ist, ließ er offen. Am Stundenplan solle dafür nichts verändert werden, die Bewegungszeit könne nachmittags nach dem Unterricht stattfinden. Söder deutete an, dass er dabei auf Sportvereine und Träger der Nachmittagsbetreuung zählt.

    Markus Söder forderte vergangenen Herbst eine „Bewegungspflicht“ von 30 Minuten am Tag für Grundschüler in Bayern. Wie diese konkret aussehen soll, ließ er aber offen.
    Markus Söder forderte vergangenen Herbst eine „Bewegungspflicht“ von 30 Minuten am Tag für Grundschüler in Bayern. Wie diese konkret aussehen soll, ließ er aber offen. Foto: Nicolas Armer, dpa (Archiv)

    Önaldi-Gildein hält das grundsätzlich für eine gute Idee. Angesichts der zunehmenden Ganztagsbetreuung seien heutzutage nicht nur Eltern gefragt, ihren Kindern Sport zu bieten. Eine staatlich verordnete Bewegungspflicht bedeute für jeden Schüler immerhin eine halbe Stunde mehr Sport, als er sonst bekäme. Die Frage sei aber: „Wie nutzen wir die 30 Minuten, um Kinder wirklich für Bewegung zu begeistern?“ Hier dürfe man nicht nur verordnen, sondern sollte auch wissenschaftlich begleitet Resultate messen.

    Spielen, spielen, spielen: Eine Ärztin aus Würzburg will alle Kinder in Bewegung bringen

    Ergebnisse kann die Würzburger Allgemeinmedizinerin Nandi Jain längst vorweisen: 2011 veröffentlichte sie ihre Doktorarbeit zur Frage, wie Kinder spielerisch zu Bewegung motiviert werden können. Mit Bewegungsspielen aus ihrer eigenen Kindheit begeistert die 56-Jährige selbst diejenigen, die sonst kaum körperlich aktiv sind. Jahrelang hat die Ärztin ihr Konzept „Pinatz“ mit Schülern erprobt: „Bewegungssensoren zeigten, dass sich gerade jene Kinder verausgabten, die sich in Freizeit und Sportunterricht kaum bewegten.“ Die Ausdauer habe nach einem Jahr mit 90 Minuten Bewegungsspiel pro Woche deutlich zugenommen.

    Es sind Klassiker wie Eierlauf, „Der Fuchs geht um“ oder Wäscheklammerfangen, aber auch weniger bekannte Bewegungsspiele, die Kraft, Ausdauer, Koordination und Konzentration fördern. „Sie sind alle kurz gehalten und so konzipiert, dass es weder Ausscheiden noch einzelne Verlierer gibt – und damit auch keine Beschämung oder Entmutigung“, erklärt Jain. Und weil die Kinder im Spiel immer wieder in Kontakt kommen, stärken sie auch soziale Kompetenzen im Umgang untereinander. Wie viel Glück einfache Bewegungsspiele für Kinder bedeuten können, hat die Würzburgerin einst am eigenen Leib erfahren.

    „Sie merken: Es ist sehr anstrengend. Aber wissen Sie? Kinder strengen sich gern an!“

    Dr. Nandi Jain, Allgemeinärztin aus Würzburg

    Die 56-Jährige stammt aus einfachen Verhältnissen. Der Spielplatz in der Sozialbau-Siedlung ihrer Kindheit bestand aus Sandkasten und zwei Schaukeln mit Betonboden. In einer Zeit weit vor Nachmittagsbetreuung, Online-Spielen und Indoor-Spielplätzen lag es an den Kindern, den Raum zwischen den Häuserblocks zu ihrem Reich zu machen, sagt Jain: „Rund um die Mülltonnen spielten wir fangen. Die Schaukeln nutzten alle gleichzeitig, indem zwei darauf saßen und die anderen Bälle an ihnen vorbeiwarfen. Und ein Gebüsch, einen Vorsprung oder einen Kellerzugang fanden wir immer, um uns zu verstecken.“

    Sammlung von Bewegungsspielen: „Pinatz“ kommt mit einfachsten Mitteln aus

    Mit keinem ihrer Nachbarskinder ist Jain im späteren Leben noch befreundet – und doch verbindet sie mit der Kinderschar die glücklichsten Stunden ihrer Kindheit. Es sind genau diese Erinnerungen, aus denen die Würzburgerin bis heute ihre Energie und Kreativität schöpft. Ihre Spielesammlung für Schulen, Mittagsbetreuungen und Freizeiteinrichtungen hat sie vergangenes Jahr auf 72 Seiten im Selbstverlag veröffentlicht. Erhältlich ist es über ihre Website www.pinatz-spielendbewegen.de. Neben ihrer Arbeit als Hausärztin gibt Jain regelmäßig Fortbildungen für Betreuende von Ganztagseinrichtungen. Sie zeigt, wie Kinder mit kleinen Spielen von Bewegung zu begeistern sind – mit den einfachsten Mitteln und ohne teure Ausrüstung. Und dabei blüht die zierliche Frau mit der Stupsnase und den lächelnden Augen selbst völlig auf.

    Spielen, spielen, spielen ist ihre Devise: Dr. Nandi Jain (rechts) hat Bewegungsspiele für Schüler gesammelt, die in Ganztagsschulen auch ohne viel Material und eigene Räume umgesetzt werden können. Hier schult sie Nachmittagsbetreuerinnen – und spielt selbst mit vollem Einsatz Fangen.
    Spielen, spielen, spielen ist ihre Devise: Dr. Nandi Jain (rechts) hat Bewegungsspiele für Schüler gesammelt, die in Ganztagsschulen auch ohne viel Material und eigene Räume umgesetzt werden können. Hier schult sie Nachmittagsbetreuerinnen – und spielt selbst mit vollem Einsatz Fangen. Foto: Anika Zidar

    In roten Sneakern, grauer Sporthose und mit vollem Einsatz demonstriert sie Nachmittagsbetreuerinnen an der Grundschule in Geiselwind, wie ihre Spiele funktionieren: Der „Hase“ ist ihr dicht auf den Fersen, als „Igel“ bringt sich Jain gerade noch in Sicherheit. Laut kichernd flitzt die quirlige Anleiterin zwischen den erstaunten Teilnehmerinnen hindurch, ihre schwarzen kurzen Haare fliegen in alle Richtungen. Doch als die Rolle des Hasen schlagartig an eine andere Person wechselt, entsteht erst Verwirrung – und dann eine Verschnaufpause. Mit beiden Händen stützt sich Jain auf ihre Oberschenkel und atmet durch. „Sie sind der Hase! Und ich kann nicht mehr“, prustet sie.

    Das Ausdauerspiel hat es in sich: „Sie merken: Es ist sehr anstrengend“, sagt Jain, grinst und beendet die Runde. „Aber wissen Sie? Kinder strengen sich gern an! Alle sind beschäftigt und jeder kann im nächsten Moment als Hase oder Igel gefragt sein.“ Die Teilnehmerinnen nicken zufrieden. Zwei von ihnen überlegen konkret, wie sie die Spiele in der Nachmittagsbetreuung umsetzen. Da wird eine von ihnen sehr ernst: „Wir haben leider nur den asphaltierten Platz im Pausenhof zum Spielen. Wenn da ein Kind hinfällt, hat es ordentliche Schrammen.“ Die Würzburger Ärztin aber bleibt gelassen. Jedes Kind könne hinfallen, wenn es draußen auf dem Pausenhof rennt, sagt sie. „Aber ein Kind, das nie gerannt und nie hingefallen ist, hat sein Leben nicht gelebt.“

    Bierdeckel, Kochlöffel, Wäscheklammern: Die Bewegungsspiele aus dem Konzept von  Nandi Jain kommen ohne große Ausrüstung und mit Material aus, das in vielen Haushalten bereits vorhanden ist.
    Bierdeckel, Kochlöffel, Wäscheklammern: Die Bewegungsspiele aus dem Konzept von Nandi Jain kommen ohne große Ausrüstung und mit Material aus, das in vielen Haushalten bereits vorhanden ist. Foto: Anika Zidar
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