Ihre Wohnung findet Gertrud Böpple, 78, gut. Mitten in Neusäß liegt sie, ihre Tochter wohnt gleich nebenan. Wenn da nicht die Belastung durch die vorbeifahrenden Züge auf der Strecke Augsburg–Ulm wäre. Gefühlt habe die in den vergangenen Jahren stark zugenommen, sagt Gertrud Böpple. Doch sie hatte eine Idee für eine Verbesserung: Die Verglasung des Balkons zur Bahnstrecke hin sollte gegen den Lärm helfen. Das funktioniert auch, sagt die Rentnerin. Doch eines geht ihr nicht in den Kopf. Dass es für die Maßnahme keine finanzielle Unterstützung gibt, ist das eine. Aber nun soll sie auch noch einen Beitrag an die Stadt Neusäß zahlen. Denn am Ende hätte sich nun ihre Wohnsituation verbessert.
Es ist eine Situation, die viele Bürgerinnen und Bürger in Neusäß kennen, ob an der Hauptstraße, der Oskar-von-Miller-Straße oder der Tulpenstraße. Die Bahnlinie ist praktisch in greifbarer Nähe. Auf der viel befahrenen Strecke kann der Lärm der Züge schnell zur Belastung werden. So ist das auch beim Ehepaar Böpple. Seit zwei Jahren leben die beiden in dem Mehrfamilienhaus in unmittelbarer Bahnnähe. Inzwischen ist Gertrud Böpples Mann schwer erkrankt, sie pflegt ihn zu Hause. Vielleicht hängt es auch mit dieser Belastungssituation zusammen, dass Gertrud Böpple der Geräusche der Bahn immer lauter vorkamen.
Bahnstrecke Ulm–Augsburg ist bis ans Limit ausgelastet
Doch auch objektiv ist die Bahnstrecke an ihre Grenze gekommen. Fernverkehr, Nahverkehr und auch der Gütertransport laufen über diese Strecke. Die Bahnlinie ist gut 160 Jahre alt und soll aus diesem Grund ausgebaut werden – wo und wie, das ist freilich noch offen. Fest steht jedoch: Die Güterverkehrsströme haben sich in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt, bis 2025, das hatte bereits die Große Koalition vereinbart, sollen 25 Prozent des Aufkommens über die Schiene transportiert werden. Wer an der Bahnlinie wohnt, weiß: Gerade diese Züge machen besonders viel Lärm.
Auch in der Stadt Neusäß ist man sich der Situation der Anwohnerinnen und Anwohner bewusst. Für Bürgermeister Richard Greiner ist der Lärmschutz eine Voraussetzung, die er von der Deutschen Bahn im Zusammenhang mit dem möglichen viergleisigen Ausbau der Bahnstrecke immer wieder gefordert hat. Und der Lärm der Bahn war auch das entscheidende Thema bei der Aufstellung eines neuen Bebauungsplans in der Nähe des Friedhofs Westheim. Für den Bürgermeister waren die erwarteten Lärmwerte durch den Zugverkehr in der Nähe der Schienen ein eindeutiger Hinweis darauf, dass sich beim Schallschutz für die Anliegerinnen und Anlieger endlich etwas tun müsse.
Belastung für Anwohner: Freude über den raschen Bau ist nun getrübt
In der Zwischenzeit müssen die nämlich noch selbst aktiv werden. So wie Gertrud Böpple. Sie hatte sich für die Verglasung die Zustimmung der Eigentümergemeinschaft geholt sowie eine Baugenehmigung bei der Stadt Neusäß beantragt und erhalten. "Ich hatte dann auch Glück, und das Material für den Bau war leicht zu bekommen", sagt sie. Doch die Freude ist nun getrübt. Dass sie einen Beitrag zahlen soll, um die Investitionskosten der Stadt Neusäß in das Kanalnetz der gesamten Stadt zu refinanzieren, will ihr nicht in den Kopf. "In der Verwaltung bekam ich die Auskunft, ich könnte den Balkon doch jetzt ganz anders nutzen", erzählt sie von einem Telefonat, in dem sie nach der Begründung für den Beitrag fragte.
Nach Auskunft der Stadt Neusäß hat sich durch die Verglasung die Geschossfläche der Wohnung vergrößert und somit wurde der zusätzliche Beitrag fällig. Dass die Verglasung errichtet wurde, um gegen den Bahnlärm zu helfen, "spielt im Beitragsrecht keine Rolle, war uns nicht bekannt und wird auch mangels Relevanz nie hinterfragt. Es zählt allein, ob die bewohnbare Geschossfläche vergrößert wurde", heißt es aus dem Rathaus weiter. "Die Lärmschutzproblematik war zu keinem Zeitpunkt für die Beitragserhebung relevant. Es stellt sich zudem die Frage, inwieweit die nach vorne offene Überdachung hier eine Verbesserung bringt", zweifelt man im Rathaus zudem.
Gertrud Böpple hat die 179 Euro inzwischen bezahlt. Nicht fair behandelt fühlt sie sich dennoch.