Seit 20 Jahren ist Wolfgang Tresenreiter Strafrichter am Landgericht. An einen Menschen, der einen Angriff mit derart schweren Verletzungen überlebt hat, kann er sich nicht erinnern. Am 4. April 2023 hat ein heute 25 Jahre alter Mann einem Schüler mit einer abgebrochenen Flasche in den Hals gestochen, der Schnitt reichte bis nahezu an die Wirbelsäule. Der Jugendliche überlebte, doch er wird nie arbeiten können. Er wird sein Leben lang an Sprachstörungen leiden, komplexe Sachverhalte nicht begreifen können. Er wird nie uneingeschränkt gehen und seinen rechten Arm kaum oder gar nicht verwenden können. Das Opfer, sagt Tresenreiter, habe lebenslang bekommen. Den Täter hat das Landgericht Ulm am Montag wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung zu acht Jahren Haft verurteilt. Eine Frage bleibt jedoch ungeklärt.

Es ist der Dienstag vor Ostern, als drei Jugendliche die B10-Unterführung bei der Kleinen Blau in Ulm durchqueren. Dort hält sich eine andere Gruppe auf. Junge Leute, die dort häufig Musik hören und Alkohol trinken. Menschen, die dort regelmäßig vorbeikommen, empfinden die Engstelle als unangenehm. Ein junger Mann aus der Gruppe hat einem deutlich größeren Mitarbeiter des städtischen Ordnungsdienstes einmal betrunken Schläge angedroht. Von Aggressionen ist sonst nichts bekannt. Bis zum 4. April. Jenem Tag, an dem die beiden Gruppen sich begegnen. Jenem Tag, an dem zwei Schüler aus dem Raum Weißenhorn verletzt werden. Einer von ihnen so schwer, dass er sich nie ganz erholen wird.
Lebensgefährliche Attacke in B10-Unterführung in Ulm: Gericht fällt Urteil
Bereits einige Wochen zuvor hat es ein Treffen gegeben, Genaueres ist nicht bekannt. Zeugen haben hierzu unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgesagt. Vorsitzender Richter Tresenreiter geht in der Urteilsbegründung nicht näher darauf ein. Der Angeklagte hat beim Prozessauftakt gesagt, er habe Angst gehabt – wegen des früheren Treffens.
Der Angeklagte ist 25 Jahre alt, nicht vorbestraft. Sein Intelligenzquotient ist niedriger als im Durchschnitt der Bevölkerung, aber nicht so niedrig, dass er als geistig behindert gelten würde. Ob er kognitiv in der Lage war, sein Handeln und dessen Folgen richtig zu beurteilen, hat im Verfahren eine Rolle gespielt. Die Kammer geht davon aus, dass der Mann gewusst habe, was er tat. Eine gezackte abgebrochene Flaschenhals als Waffe komme in so vielen Filmen vor, sagt Tresenreiter. Jeder wisse, dass so ein Gegenstand hochgefährlich sei.
Wer fing an? Zeugen widersprachen sich vor dem Landgericht Ulm
Eine Frage kann die Kammer nicht klären, weil sich die Zeugenaussagen widersprechen. Wer hat angefangen? Beide Versionen seien denkbar, meint Tresenreiter. Doch es könnten auch beide Versionen falsch sein. Deutlich sei aber: Die Begleiter des Hauptgeschädigten hätten vieles sehr detailreich geschildert. Den Anfang der Auseinandersetzung hätten sie farblos beschrieben. Tresenreiter wirft eine Frage auf: vielleicht, weil die beiden Schüler sich nicht selbst mit dem Gedanken konfrontieren wollten, dass sie selbst zur Eskalation beigetragen haben?
Was unklar bleibt, muss das Gericht zugunsten des Angeklagten auslegen. Und diese Auslegung klingt so: Es ist kurz nach 23 Uhr. Die Schüler durchqueren die Unterführung, gehen an der anderen Gruppe vorbei und drehen sich um. Einer von ihnen, er ist 17 Jahre alt, spricht die Gruppe auf die laute Musik an. "Man kann sich vorstellen, dass das nicht nur freundlich war", sagt Tresenreiter. Dieser 17-Jährige und der Angeklagte streiten. Dann könnte der Schüler mit der Faust zugeschlagen haben, bevor der Angeklagte erst mit der Faust und dann mit einer Glasflasche zurückschlägt. Nicht um sich zu verteidigen, sondern aus Verärgerung über den Hieb und "aus Zorn gegen die Welt", wie es der Vorsitzende Richter beschreibt. Dann sticht der Täter mit der nun abgebrochenen Flasche zu, er trifft einen anderen 17-Jährigen am Hals. Aus der Wunde schießt eine Blutfontäne. Das Opfer rennt davon, seine Begleiter schreien in Panik. Der Täter weist seine Freunde an, die Scherben zusammenzukehren. Einem Passanten sagt er, die Blutlache stamme von Kindern, die sich geschnitten hätten.

Schüler aus Raum Weißenhorn wird für immer an Folgen des Angriffs leiden
Die Lebensgefahr habe der Mann erkannt, das steht für das Gericht fest. Doch der 25-Jährige habe nichts getan, um sein Opfer zu retten. "Die Folgen sind ihm zumindest in dem Moment egal", folgert Tresenreiter. Kameraaufnahmen zeigen, wie der 25-Jährige mit der Straßenbahn nach Hause fährt. Er wirke entspannt, schildert Tresenreiter. Um 0.30 Uhr verschickt der Täter eine Textnachricht an einen Kollegen: "alles lässig". Er sei zu Hause, vor der Glotze.
Der Mann hat als Kind Schlimmes erlebt. Tresenreiter spricht von einer abscheulichen Kindheit mit erheblicher Gewalterfahrung. Die sei keine Entschuldigung und kein Freibrief. Aber sie schränke in bestimmten Situationen die Handlungsmöglichkeiten ein. Dennoch ist das Gericht überzeugt, dass der 25-Jährige abschätzen konnte, was er tat und was geschah. Das Leben des Opfers müsse in zwei Abschnitte unterteilt werden, kommentiert Tresenreiter: "Bis zum 4.4. um 23.15 Uhr und danach ist nichts mehr dasselbe." Acht Jahre Haft seien erforderlich und angemessen. Für die Familie könne keine Strafe aufwiegen, was geschehen sei, sagt Nebenklagevertreterin Ulrike Mangold.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.