Eine dünne Hülle Mensch. Das war er noch. Wenn man ihn ansprach und er antwortete, klangen seine Worte hohl und verdreht. Viele Casteller gaben nicht mehr viel auf den Mann. „Der Wolfgang säuft sich zu Tode“, hieß es. „Lang dauert‘s nimmer.“ Doch „der Wolfgang“ lebt noch. „Es war knapp“, sagt der 64-Jährige heute. Und allein die Tatsache, dass Wolfgang Kaul wieder sprechen kann, ist ein kleines Wunder. Seine Lebensgeschichte ist eine Mut-mach-Geschichte.
Der Winzer und Metzger aus Castell hat nicht nur seine Alkoholsucht überwunden, sondern auch den Kehlkopfkrebs, der ihm jahrelang die Stimme geraubt hatte. Er ist dem Tod von der Schippe gesprungen, aber die Schippe hat dafür Menschen aufgeladen, die er liebte. Trotz allem: Jetzt hat er inneren Frieden gefunden.

Wenn man ihn früher sah, trug der Vater eines Sohnes oft einen Rucksack auf dem Rücken. Darin klirrten Flaschen. „Ich habe meine Probleme weggetrunken“, analysiert Wolfgang Kaul heute. Woher die Probleme kamen? „Ich denke, das hat schon damit angefangen, dass meine Generation nicht richtig aufgeklärt war. Über vieles ist nicht offen geredet worden. Wenn du dann eine Beziehung hast und die nicht richtig funktioniert, dann bist du ratlos – und der Alkohol kommt grade recht.“
Mit der richtigen Menge intus fielen die Hemmungen und das Leben wurde leicht. Zumindest, bis der Pegel sank und die Realität einen einholte.
Der Arzt fragte ihn: „Willst du leben oder sterben?“
Sorgen, Trinken, Entspannen, Sorgen, Trinken...: Jahrelang perfektionierte Wolfgang Kaul dieses Jonglieren mit dem Alkohol-Pegel. Sein Körper veränderte sich, sein Wesen auch. Abstoßend fanden ihn manche. Er sich selbst manchmal auch. Also trank er noch mehr, machte einen Entzug, trank wieder. Seine Frau Heide hielt zu ihm, „obwohl es bestimmt nicht einfach mit mir war“. Dann wurde Kaul krank, brauchte eine Magen-OP, bei der auch ein Stück Darm entfernt werden sollte. „Willst du leben oder sterben?“ Diese Frage des Arztes vor der Operation verfing sich in Wolfgang Kauls Hirn.

„Zum ersten Mal ist mir richtig klar geworden, was ich da mache. Ich hab‘ meine Frau angerufen und gesagt, dass es ernst ist. Dass ich meine letzte Chance nutzen will. Und leben.“ Einen festen Willen hatte Kaul schon immer – einen „fränkischen Dickkopf“ hatten ihm die Musikerkollegen der früheren Dorfkapelle „Winzerkittel“ einst bescheinigt. Er schaffte es, von heute auf morgen „mit der Sauferei aufzuhören“.
Fränkischer Dickkopf macht einen harten Entzug
Es sei eine „reine Kopfsache“ gewesen, sagt Wolfgang Kaul. „Ob ich es allerdings geschafft hätte, wenn ich keine Perspektive gehabt hätte, weiß ich nicht.“
Die Perspektive kam in Form eines Pfarrers und eines waschechten Fürsten. „Ohne den Kleins Ernst wäre ich tot“, sagt Kaul freimütig. Pfarrer Ernst Klein kannte Kaul seit langem, ebenso Fürst Albrecht zu Castell-Castell. Die beiden hatten keine Berührungsängste. Sie suchten Wolfgang Kaul auf, im Krankenhaus, daheim. Sie sprachen Tacheles mit ihm, aber sie nahmen ihn auch tröstend in den Arm.

Fürst Albrecht zu Castell-Castell ließ Kaul für einen Monat im Casteller Weingut einstellen – wenn er etwas tauge, werde der Vertrag verlängert. „Das war für mich der richtige Ansporn“, erzählt der 64-Jährige. „Der Fürst hat mich, als es mir richtig schlecht gegangen ist, aber auch fest und fast väterlich an seine Brust gedrückt.“ Das habe ihn berührt, auch innerlich, und ihm Kraft gegeben. Beide Männer hätten mit dem Alkoholiker gebetet.
Gebetet? „Ja“, sagt Wolfgang Kaul. „Ich bin zwar christlich aufgewachsen, aber der Glauben hat früher keine echte Rolle gespielt.“ Mit Pfarrer Klein, dem inzwischen verstorbenen Fürst Abrecht und dessen Sohn Ferdinand Fürst zu Castell-Castell änderte sich das. „Sie haben mir gezeigt, wie man Halt im Christsein findet. Wie man annimmt, was passiert ist, und daran wächst.“ Der Casteller absolvierte den Alpha-Kurs, in dem die Grundlagen des christlichen Glaubens betrachtet werden.
Nach dem Alkohol kam der nächste Schock: Krebs
Als Kaul erst einmal entschieden hatte, nie mehr zur Flasche zu greifen, sei die Umsetzung dieser Entscheidung nicht schwer gewesen, sagt der frühere Tubist der „Winzerkittel“. Doch nicht alles im Leben kann der Mensch selbst entscheiden. Einige Jahre, nachdem er die Alkoholsucht bezwungen hatte, diagnostizierten die Ärzte bei Wolfgang Kaul Kehlkopfkrebs.
„Ich habe Gott gesagt, dass er ein Arsch ist. Dann habe ich mich entschuldigt.“
Wolfgang Kaul, Metzger und Winzer
Der gesamte Kehlkopf samt Stimmbändern musste entfernt werden. Danach noch immer keine Entwarnung. Ausgerechnet an dem Tag, an dem seine Mutter in Castell beerdigt wurde, im Frühjahr 2022, musste Kaul erneut operiert werden. Das stoppte den Krebs. Aber von nun an war der Casteller stumm.

Er arrangierte sich damit, lernte Gebärdensprache und verständigte sich mit anderen Menschen, indem er Dinge aufschrieb. Dann, plötzlich, erkrankte seine Frau Heide. Sie, die immer zu ihm gesagt hatte „Wir schaffen das schon“, erlitt eine innere Vergiftung. Im Herbst 2023 starb Heide Kaul.
Wie verkraftet man so viele Tiefschläge?
Wolfgang Kaul sagt: „Ich rede jeden Tag mit Gott. Ich habe ihm auch schon schlimme Sachen um die Ohren gehauen. Ich habe ihm gesagt, dass er ein Arsch ist. Aber danach habe ich mich entschuldigt.“ Der Casteller hält inne. Dann fragt er: „Was wäre, wenn Gott alle Steine aus unserem Weg räumen würde? Was hätte unser Weg dann für einen Sinn?“
Ein Knopf am Kehlkopf gibt ihm seine Stimme zurück
Den Sinn seines eigenen Weges sieht Wolfgang Kaul darin: „Ich will anderen Mut machen.“ Es gebe Menschen mit noch weitaus schlimmerem Schicksal. Viele dieser Menschen zögen sich zurück, versteckten sich, verlören den Lebensmut. „Menschen brauchen Menschen“, ist der Casteller sicher. Deshalb versteckt er sich nicht, sondern teilt seine Geschichte und die Erfahrungen daraus.

Seit rund einem halben Jahr kann der 64-Jährige wieder sprechen – dank eines Tracheostomas (Luftröhrenschnitts) und einer implantierten Stimmprothese. Wenn Kaul einen beigefarbenen Knopf am Hals drückt, aktiviert er ein kleines, ins innere Gewebe eingesetztes Shunt-Ventil, das die Luftröhre mit der Lunge und dem Mund-Rachenraum verbindet. So kann Luft durch das Ventil über die Speiseröhre in den Rachenraum gelangen und dort Töne erzeugen.
Statt der früheren Stimmbänder vibrieren nun die Schleimhäute. Mit etwas Übung – „Die Volkacher Logopädin Ursula Dienesch hat super mit mir trainiert!“ – klingt das wie eine normale menschliche Stimme.

Wolfgang Kaul muss sein Tracheostoma gut pflegen, damit keine Keime in seinen Körper gelangen. Bei den vierteljährlichen Kontrollen konnte er bisher immer aufatmen: alles okay, keine neuen Krebszellen zu finden. Doch eines macht ihn traurig: Wenn er Bekannte trifft, egal, ob in seinem Heimatort oder beim Einkaufen, fällt ihm auf, dass einige ihn meiden. „Vielleicht haben sie Angst und wissen nicht, wie sie auf mich zugehen sollen?“
Und was hat er selbst aus seiner Geschichte gelernt? Wolfgang Kaul muss nicht lange überlegen: „Dass Alkohol keine Probleme löst und Gott auch nicht alle. Aber er trägt einen durch alle durch, wenn man auf ihn vertraut.“

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