Gerne erinnert die Stadt Bad Kissingen an ihren Kurgast Otto von Bismarck und hat ihm, wie viele andere Orte, sogar ein Denkmal gebaut. Allerdings gibt es ein Ereignis, auf das man wohl gerne verzichtet hätte. Das Attentat im Jahr 1874. Auch wenn die Bevölkerung damals nicht über Sondersendungen und bunte Bilder hautnah dabei war, sorgte das Geschehen für zusätzlichen Schrecken in einer unsicheren Zeit.
Über die Wirren des 19. Jahrhunderts samt Einblicken in die Kur berichtete jetzt Dr. Marcus Mühlnikel bei einem Online-Vortrag. "Der Attentäter wollte mit einem Schuss die Welt verändern", so der akademische Oberrat am Institut für Fränkische Landesgeschichte. Erreicht habe der Kriminelle das Gegenteil: Die Verschärfung bestehender Verhältnisse.
Eigentlich ging es bis zu jenem 13. Juli 1874 in Bad Kissingen eher beschaulich zu. Die Kur florierte. Zu den 5450 Kurgästen in jenem Jahr zählten König Ludwig II., Königin Elisabeth von Österreich und der russische Zar Alexander II. Besonders neugierig waren die Kissinger auf Otto von Bismarcks ersten Besuch.
Der Reichskanzler hatte Erholung ziemlich nötig, denn seit der Übernahme des Amtes ging es ihm nicht gut. Schlafstörungen und Übergewicht trieben ihn um. In der Saalestadt suchte er Abstand. Allerdings gab es bei seinem ersten Aufenthalt zunächst nicht so viel von ihm zu sehen. Denn er nahm zunächst kaum am Amüsement teil, zitierte Mühlnikel aus der Wiener Neuen Presse.

Die Kur ließ Bismarck offenbar Zweifeln. So erlebte er nach seinen Worten "geistige Stumpfheit und einstweilige Verdummung". Erst Tage nach seiner Ankunft unternahm er Ausflüge.
Das Drama nahm seinen Lauf, als Bismarck laut der Schilderungen Mühlnikels mit seiner Kutsche aus seinem Quartier in der heutigen Bismarckstraße in Richtung Saale einbog. Attentäter Eduard Kullmann feuerte aus 1,5 Metern einen Schuss auf den Reichskanzler ab. Dazu war der 20-jährige Böttchergeselle dem Reichskanzler aus Berlin nachgereist.
Kugel traf nicht richtig
Bismarck hatte Glück: Der Umstand, das er seine Hand zum Gruß eines Adeligen am Straßenrand zum Kopf geführt hatte, rettete ihm wohl das Leben. Die Kugel traf die Hand Bismarcks. Der Politiker "spürte einen leichten Strom und war für kurze Zeit geblendet", berichtete Mühlnikel von den Verletzungen.
Zunächst habe der Reichskanzler das Attentat heruntergespielt. "Das ist nicht schön, wenn Landsleute aufeinander schießen", wird eine seine ersten Erklärungen nach der Tat zitiert. Und: "Die Sache ist nicht kurgemäß, aber das Geschäft bringt es so mit sich". So lapidar wie diese Worte blieben die Folgen des Attentats aber nicht. Sie heizten den schwelenden Kulturkampf zwischen Politik und katholischer Kirche im Deutschen Reich weiter an.

Denn bei Attentäter Kullmann, gebürtig aus dem Raum Magdeburg, handelte es sich um einen fanatisierten Gläubigen. "Ich dachte, nur wenn ich Bismarck umbringe, wird einer der tollsten Feinde aus dem Weg geräumt", ist von ihm als Zitat überliefert.
Disput zwischen Politik und Religion
Viele Katholiken haderten in dieser Zeit mit unbequemen politischen Entscheidungen. So wurde in Preußen zum Missfallen vieler Geistlicher ein Schulaufsichtsgesetz verabschiedet, es gab einen Kanzel- und einen Jesuitenparagraphen, die in das religiöse Leben eingriffen. Der Bayerische Landtag regulierte zudem die Priesterausbildung durch Gesetze.
Das Misstrauen zwischen den Konfessionen war groß. Auch, weil er den örtlichen Ämtern im überwiegend katholischen Bad Kissingen nicht traute, begab sich Otto von Bismarck eine Stunde nach dem Attentat selbst zur Vernehmung des verhafteten Attentäters.
Doch damit nicht genug: Bismarck ließ später einen Staatsanwalt aus Berlin kommen. Die gerichtlichen Ermittlungen zu dem Fall ließ er im evangelischen Schweinfurt führen, obwohl eigentlich die Justizbehörden im katholischen Bad Neustadt zuständig gewesen wäre. Von der katholischen Volkszeitung hagelte es gegen die "preußische Einmischung" Kritik.
Überhaupt nutzte Bismarck den Vorfall, um Stimmung in seinem Sinn zu machen, zumal er ein Komplott vermutete. Katholische Priester in Preußen wurden daraufhin schärfer überwacht, ausländische Geistliche ausgewiesen und katholische Vereine geschlossen, zeigte Marcus Mühlnikel Auswirkungen auf.
Auch auf den Charakter Bismarcks schlug sich das Attentat nieder. Er galt ursprünglich als volksnah, doch der Zwischenfall führte zu einer gewissen Abschottung, ja sogar auf Hass gegenüber bestimmten Mitmenschen. Dies belegte Mühlnikel auch mit seinem Quellenstudium bis in die Familienkorrespondenz.
Verstärkter Personenschutz
Während man Bismarck vor dem Attentat häufiger in der Menge baden sah, änderte sich das mit dem Anschlag. 14 weitere Male war er in Bad Kissingen noch auf Kur gewesen. Allerdings hielt sich dann stets extra ein Sicherheitsdienst in der Stadt auf. Zudem war der Reichskanzler unter Menschen von je zwei Sicherheitskräften auf allen Seiten umringt.
Ausführlicher ging Mühlnikel auch auf den Attentäter ein. Er wurde von einem Würzburger Gericht zu 14 Jahren Haft verurteilt. Wegen 36 Verstößen gegen die Ordnung der Haftanstalt St. Georgen (Bayreuth) kamen noch fünf Jahre drauf. Schließlich starb er hinter Gittern.
In der Gesetzgebung wirkt der Anschlag bis heute nach. Denn während im 19. Jahrhundert der Angriff auf einen Fürsten als Hochverrat mit der Todesstrafe bestraft wurde, wurde die Anstiftung zu einer Straftat nicht geahndet. Nach dem Attentat änderte sich das: Nun drohten Tätern dafür Geldstrafen oder Gefängnis. Wohl auch, weil Bismarck hinter dem Anschlag, laut Mühlnikel, ein Komplott der katholischen Kirche vermutete.
Zuhörer aus Südamerika und Afrika
Rund fünf Jahre hatte Mühlnikel für seine Promotion zu Attentaten in Europa geforscht. Er ist Akademischer Oberrat am Institut für Fränkische Landesgeschichte der Universitäten Bamberg und Bayreuth. Der Online-Vortrag stieß auf beachtliches Interesse. Bis zu 170 Geräte waren zugeschaltet. Ausrichter war das Colloquium Historiqum Wisbergense (Lichtenfels). In 19 Bezirksgruppen widmet sich der Zusammenschluss von 1900 Mitgliedern Geschichtshemen vornehmlich aus Oberfranken und Südthüringen.
Bei Begrüßung der Zuhörer an den Bildschirmen daheim freute sich Moderator Günter Dippold, Bezirksheimatpfleger von Oberfranken, über die unerwartete Resonanz, die von dem Colloquium angebotenen Internet-Vorträge erzielen. Dem Vortrag zu dem Bismarck-Attentat lauschten sogar Zuhörer in Bolivien und dem westafrikanischen Benin. Abrufbar ist der Vortrag von Marcus Mühlnikel unter https://vimeo.com/536951553