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Bad Kissingen: „Das Vaterland“: ein eindrucksvoller Historienroman

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„Das Vaterland“: ein eindrucksvoller Historienroman

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    Das Cover von „Das Vaterland“ von Heinz Liepman.
    Das Cover von „Das Vaterland“ von Heinz Liepman. Foto: Pendragon Verlag

    Im Juni 1933, fünf Monate nach Hitlers Machtergreifung , floh der damals 27-jährige jüdische Schriftsteller und Journalist Heinz Liepman (1905-1966) nach Paris. Er hatte unter anderem mit Artikeln in der „Weltbühne“ und im „Hamburger Echo“ vor den Nazis und deren Antisemitismus gewarnt, weshalb seine drei auch international beachteten Romane vom Regime im April verboten und öffentlich verbrannt worden waren und er selbst bedroht wurde. Im Exil schrieb er sofort seinen Roman „Das Vaterland“, der schon im November 1933 bei einem Amsterdamer Verlag auf Holländisch und Deutsch erschien. Diesen „Tatsachenroman aus dem heutigen Deutschland“, einen der ersten deutschsprachigen Exilromane, gibt es nun seit Februar in kommentierter Neuausgabe beim Pendragon Verlag.

    Hamburg zur Zeit des Nationalsozialismus

    Darin schildert Liepman in einer Mischung aus fiktiver Handlung, eigenem Erleben, in die Handlung eingearbeiteten Schicksalen realer Hamburger Einwohner sowie damaligen Meldungen in Hamburger Lokalzeitungen sehr authentisch den Alltag einfacher Menschen in seiner Heimatstadt Hamburg von März bis Juni 1933 unter der Nazi-Diktatur. Am Beispiel von Einzelschicksalen schreibt er – wie es im umfassenden Nachwort des Herausgebers und Liepman-Biografen Wilfried Weinke heißt – „über die Veränderungen im privaten, sozialen und politischen Leben, die dazu führten, dass Familienbande zerrissen, Menschen zu Unpersonen, Recht- und Wehrlosen wurden“.

    Von der hohen See zurück ins Leben

    Nach acht Wochen auf hoher See kehrt der Fischdampfer Kulm nach Hamburg zurück. „Drei Monate war die Kulm unterwegs. Funkenbude gibt’s nicht, einen Hafen haben wir nicht angelaufen. … Was inzwischen in der Welt geschehen ist, wissen wir nicht. Wie sollten wir auch? Und warum?“ Zwar stehen die einzelnen Besatzungsmitglieder weltanschaulich und politisch unterschiedlichen Strömungen nahe, doch an Bord spielte Politik keine Rolle. Dies ändert sich nun abrupt während der Tage an Land. Die Nationalsozialisten herrschen mit Gewalt und Willkür. Episodenhaft zeigt der Autor, wie sich nun jedes Besatzungsmitglied seinen Platz in der veränderten Gesellschaft suchen, sich im Kampf um Leben und Überleben positionieren muss.

    Liepman kritisiert Gleichgültigkeit der Menschen

    Es sei „kein Roman, sondern ein Pamphlet“, heißt es in Liepmans Vorwort aus September 1933. Er schildert Vorfälle, deren Zeuge er selbst oder Freunde von ihm waren. Er wollte mit seiner Erzählung „die Menschen der Länder, in denen dies Buch erscheint“, informieren. Sie „sollen wissen, wie der äußerlich so bestechende Nationalsozialismus in der alltäglichen Wirklichkeit aussieht“. In seiner literarischen Anklage prangerte der Autor auch die Gleichgültigkeit mancher Landsleute an, die Schreckensmeldungen nicht akzeptieren wollten und vor alltäglicher Gewalt und Willkür – sei es aus Angst oder aus Opportunismus – die Augen verschlossen oder sich den Nazis leichtgläubig anschlossen: „Milchhändler und Barbiere, Strichmädchen und Studenten. Sie alle erhofften bessere Zeiten und wollten schrecklich gerne an jemanden glauben, der ihnen alles versprach.“ Sogar unter deutschen Juden war anfangs noch Sorglosigkeit auszumachen: „Werte Dame, Sie erzählen hier Gräuelmärchen. Ich bin auch Jude. Aber weder mir noch meiner Familie hat irgendjemand etwas getan. Der Hitler weiß schon, was er will.  … Passen Sie auf, in vier Wochen hört man nichts mehr von Antisemitismus in Deutschland.“

    Authentische Erzählung ohne Dramatisierung

    Liepmans Roman ist kein literarisch oder intellektuell anspruchsvolles Werk und kann es als „Pamphlet“ und „Tatsachenroman“ auch nicht sein. Es ist eine fast dokumentarische, in jedem Fall authentische und in einfacher, jedermann verständlichen Sprache verfasste und beklemmende Erzählung, die seine damaligen Leser aufrütteln sollte. Liepman verzichtet auf sentimentale Dramatisierung oder heroische Überhöhung, wodurch die Unsicherheit und Ängste seiner Protagonisten sowie die Gräuel jener Zeit noch wirkungsvoller zur Geltung kommen.

    Eine Warnung an die Leser

    Mag der über 90 Jahre alte Roman vielleicht den heutigen Ansprüchen literarisch nicht mehr unbedingt entsprechen, so sind doch die darin behandelten Themen – Mitläufertum, ideologische Verblendung und moralische Verantwortung sowie die Fragen, wann Schweigen zur Schuld wird und welche Verantwortung jeder Einzelne für das gesellschaftliche und politische Geschehen trägt – allerdings zeitlos. Nicht ohne Grund appellierte deshalb Schriftsteller Heinrich Böll in seinem Vorwort zur 1979 veröffentlichten Neuausgabe des Romans an den jüngeren Leser „sich vorzustellen, was es bedeutet hat, unter dieser Schreckensherrschaft zu leben und zu überleben, er mag sich vorstellen, was über Nacht passieren konnte.“ Diesen Worten ist auch in heutiger Zeit nichts hinzuzufügen angesichts des wieder erstarkenden Rechtsextremismus und Antisemitismus . So ist die aktuelle Neuausgabe des leicht lesbaren Romans „Das Vaterland“, dessen dokumentarischer Stil den erfahrenen Journalisten in Heinz Liepman erkennen lässt, nicht nur erwachsenen, sondern vor allem jungen Lesern als historisch informative und warnende Lektüre zu empfehlen.

    Informationen zum Buch: Heinz Liepman : „Das Vaterland“, Pendragon Verlag, gebunden, 280 Seiten, Preis: 22 Euro, ISBN ‎978-3865328793

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