In der Riemenschneiderstraße 11 in Münnerstadt kann man der Zeit sehr schön beim Stillstehen zusehen. Immer leuchtet die Reklame von „Kloster Urstoff“ vor den Butzenscheiben der Gläserschränke überm Tresen. Generationen von Stammgästen haben den beige-grünen Steinfliesen seit den 1960ern nichts anhaben können.

„Lotto Bayern“, der rot Schriftzug auf gelbem Grund, verheißt seit Jahrzehnten den erhofften Weg ins Glück.

Im Herrgottswinkel, links und rechts vom Kruzifix, hängen die Konterfeis von CSU-Granden. Ein noch junger Horst Seehofer lächelt neben einem Markus Söder , der zum Zeitpunkt der Aufnahme als Umweltminister Bäume umarmt haben dürfte.

Daneben strahlt Dorothee Bär, auch CSU , am Arm des Gastwirts , drunter klopfen Männer Schafkopf, während der Hubert den Kartlern Bier hinstellt. Bald wird Hubert Mangold 83 Jahre alt, der Mangoldshubert, wie er in Münnerstadt heißt. Seine Kneipe , der „Mangoldshubert“, die früher „Mangoldskarl“ nach seinem Vater hieß, wird es so in der Zukunft wohl kaum noch geben. Und einen Wirt wie ihn wohl auch nicht mehr. Eine Hommage an den letzten seiner Art.

Es ist Donnerstagmittag. Noch ist nur ein Tisch besetzt. Helmut (61) aus Reichenbach, Helmut (64) aus Rödelmaier, Ewald (66) aus Münnerstadt, Günter (65) aus Althausen und Gerhard (76) aus Fridritt spielen Karten, geredet wird wenig. Der Rödelmaier-Helmut sagt: „Wir haben 1000 Einwohner, aber keine Kneipe “, und deshalb fährt er seit Jahren zum Hubert, immer donnerstags um die Mittagszeit. „Es ist unser sozialer Treffpunkt“, dann nimmt er einen Schluck, mischt und teilt aus. Am Kartentisch sind an allen Ecken Vertiefungen fürs Spielgeld der Männer, die die Karten auf den Tisch klopfen.

Noch hat der Gastwirt Hubert Mangold ein wenig Zeit, um einen Blick in die lange Vergangenheit der Kneipe zu werfen. „1927 haben meine Eltern die Gaststätte gekauft.“

Karl und Maria – genau, die Mangoldsmarie – hatten hier eine Bäckerei, ein Gasthaus und schon immer die Lotto-Annahme.

1932 gebar Maria einen Buben. Doch die Diphterie beendete dessen Leben schon nach sechs Jahren. „Vier Jahre später kam dann ich, ich war wie ein Geschenk für meine Eltern“, sagt Hubert Mangold .

Nach der Volksschule machte er eine Bäckerlehre beim Vater. „Ich hätte so gern Abitur gemacht. Aber ich sollte die Bäckerei übernehmen.“ Er fügte sich, natürlich, legte die Gesellenprüfung ab. Und musste dann doch das Handtuch werfen, weil er eine Mehlallergie entwickelte. So sattelte er um, wurde Metallverarbeiter in der Gewehrfabrik in Münnerstadt. „Da blieb ich 32 Jahre.“

Währenddessen wuchs „beim Karl“ eine Generation Stammgäste heran, die noch heute in dieselbe Kneipe geht.

Damals junge Burschen wie Michl Nöth aus Reichenbach, früherer Main-Post-Redakteur. „Hier war lehrerfreie Zone, diese Kneipe war damals nichts für Akademiker“, so Nöth. Wirtin Marie wusste genau, wer in die 11. Klasse ging und wer nicht. Nur ab der Elften gab es Bier, davor Radler. „Hat damals eine Mark gekostet“, erinnert sich Michl Nöth und daran, was es für karge Zeiten waren, in denen es pro Woche zwei Mark Taschengeld gegeben hatte.

Das war etwa Anfang der 70er-Jahre, wo Männer wie Edgar Erhard aus Burglauer sonntags ihren Stammtisch hatten. Insgesamt 50 Jahre lang ist der heute über 80-Jährige hierher gekommen.

Erhard war Metzgermeister, Viehhändler und Bierzeltboxer, aber auch ein angesehener Faustkämpfer: Der Hüne war damals auch unterfränkischer Vizemeister im Ring. Das war in einer Zeit, wo vor allem die Menschen aus dem Umland samstags nach Münnerstadt zum Einkauf fuhren. Die Frauen wurden beim Lebensmittelhandel ausgesetzt, die Männer nahmen am Stammtisch Platz. Man hatte sich schick damals gemacht: Historische Fotos zeigen, dass Anzug und Krawatte Pflicht zu sein schienen.

Und wenn es hieß, dass die Männer um 13 Uhr zuhause sein sollten, weil dann der Braten auf dem Tisch stand, dann zuckten viele um kurz vor 13 Uhr zusammen – und der Wirt gab ihnen ein Alibi. „Der kommt gleich heim, der ist grad nausgangen, ich mach ihm grad die Rechnung fertig“, so deckte der Wirt damals wie heute die Gäste beim Telefonat mit der besorgten oder angesäuerten Gattin – und stellte noch ein letztes Bier auf den Tisch. Oder ein vorletztes. Nicht selten verkochten die Klöße zuhause.

„Je böser das Weib, desto schöner die Kneip‘“ – über das Schild, das noch immer in der Kneipe hängt, können die weiblichen Gäste heute nur müde lächeln. Längst ist die Kneipe keine Alt-Männer-Kneipe mehr. Und daran ist Corona Schuld, doch dazu später.

Nach der Pleite der Gewehrfabrik übernahm Hubert Mangold 1998 die Kneipe – und aus dem Mangoldskarl wurde der Mangoldshubert. An seiner Seite stand da schon lange die Mizzi, seine Frau. Heirat war 1970, die Kinder Volker (54) und Karin (51) können die Tradition wohl nicht mehr weiterführen.
Wenn Hubert Mangold mal aufhören muss, dann war es das wohl auch mit der Kneipe – zu viel müsste modernisiert werden, EU-Gesetze dürften die Renovierung auch teuer werden lassen. Den Geruch nach Kanal in der Nähe der Toiletten nehmen die Gäste als unabänderlichen und ehrlichen Lokalkolorit sowie Zeugnis alter Mauern und Rohre hin - auf Bürokratie getrimmte Ämter in Zukunft wohl eher nicht.

Früher wie heute dürfen die Gäste ihre Brotzeit mitbringen, damals stellte Mutter Marie noch frische Brötchen auf die Tische. Zumindest bis 1964, da schlossen sie die Bäckerei. Was es bei Hubert Mangold noch immer gibt: Menü 1: ein hartgekochtes Ei. Menü 2: trockene Brezeln. Menü 3: Erdnüsse.

Und bei besonderen Anlässen wie beim Kappenabend: eingebackene Bratwürste, begleitet von handgemachter Musik wie beim Fasching 2025 durch einen Akkordeon-Spieler. Und Hubert Mangold spielt dazu glücklich mit den Rhythmus-Löffeln.
In den 1980er- und 1990er-Jahren formierten sich mehr und mehr verschiedenste Stammtische – und das in einem Ort, der mit Gastronomie gesegnet war. Beim Mangold trafen sie sich alle: die Sportangler wie die CSU , die SPD wie die Grünen, die Kartler natürlich, Stadträte verschiedenster Couleur, die Radler, die Liedertafel.
Feuchtfröhlich war und ist es oft und in der Mitte stand und steht der Wirt: Seit 30 Jahren alkohol- und rauchfrei, immer ein flottes Hemd, drüber eine Weste, eine schicke Jeans – leider kann das Outfit die Knie drunter nicht erneuern. Wenn die Liedertafel im ersten Stock probt, müssen sich die Sänger das Bier unten am Tresen abholen – die Arthrose zwingt ihn buchstäblich in die Knie.
„Du musst mit den Leuten können“, sagt Hubert Mangold . Und er kann’s. „Eine Schlägerei hat es hier nie gegeben. Ja, ab und an musste ich mal einen rauswerfen, aber der hat am nächsten Tag dann kleinlaut angerufen und gefragt, ob er wieder kommen kann.“

Und an den Stammtischen wurde nie einem der Platz verwehrt, außer in früheren Zeiten Frauen im Allgemeinen. „Auch mir nicht“, sagt Eduard Lintner . Der frühere Bundestagsageordnete zog 1978 nach Münnerstadt. In seiner Hochzeit als Parlamentarischer Staatssekretär saß er am Stammtisch, seine Personenschützer am Nachbartisch. Und als er Schlagzeilen wegen der „Aserbaidschan-Affäre“ machte und noch immer macht, da hat er hier Diskussionen und Witze aushalten müssen, „aber ich darf weiterhin Platz nehmen“.
Lintner hat früher dafür gesorgt, dass sich sein Stammtisch auch bewegt hat: Er organisierte („Besser: Ich ließ organisieren“, berichtigt er sich) Radtouren. Zu seinem Arbeitsplatz Bonn, nach Berlin, an die Mosel – die Mürschter erradelten sich Deutschland.
Zu seiner Linken sitzt an diesem Abend Landwirt Heinz Schmitt , der seinen Stammplatz seit Jahrzehnten hat. Er ist seit 65 Jahren der 1. Tenor in der Liedertafel, die im Saal im ersten Stock wöchentlich probt. „Die Gaststätte ist Heimat, weil man sich einfach daheim fühlt. Wir wünschen uns, dass der Hubert noch lange durchhält.“

Das wünschen sich mittlerweile auch jüngere Generationen – und auch Frauen. „Die Frauen stehen ja fast kulturhistorisch für eine neue Epoche in einer bis dahin tiefschwarzen und von Generationen von Männern dominierten Kneipe “, witzelt Stefan Richter. Seit über drei Jahren wohnt der Klimamanager aus Bochum nun in Münnerstadt.
Er meint auch Frauen wie die Künstlerin Mia Hochrein, die vor drei Jahren heimlich zwischen die Fotos der CSU-Politiker im Herrgottswinkel ein Bild vom SPD-Urgestein Herbert Wehner genagelt hat. Hubert hat es mit Humor genommen, es hängt noch immer da.

Für Stefan Richter ist die Kneipe „absoluter Kult und ein ganz wichtiger Ort in Münnerstadt – zum Schafkopfen, zum Austausch, für gesellige Abende und manchmal einfach, um dumm rumzuschmarren.“ Hier würden viele Geschichten erzählt, „Lachen geteilt und Lebensfreude verbreitet“.

Und tatsächlich gibt es auch die ruhigen Abende, in denen der Wirt viel Zeit hat, mehr über seine Gäste zu erfahren.

Es scheint, als ob Hubert Mangold selbst viel Lebensfreude aus den lustigen Momenten in der Kneipe zieht. Und dass auch er mal im Zentrum eines Spaßes steht. Wie in den 90er-Jahren. Es war Schutzengelsmarkt in Münnerstadt, viele Touristen kamen ins Städtchen. Und waren hungrig. Da erlaubte sich Stadtrat Peter Will (mit der Autorin verwandt, red.) einen Streich: Er fingierte eine Speisekarte , auf der Schweinebraten, Sauerbraten und Bratwürste angeboten wurden und pinnte die an die Tür der Gaststätte. Und plötzlich war die voll mit Fremden, die eine deftige Mahlzeit bestellten – und einem Mangoldshubert, der die Welt nicht mehr verstand. Erst Jahrzehnte später erfuhr der Wirt, wer für diesen Streich damals verantwortlich war und lachte lange und laut. „So ein Sauhund!“
„Ich hab viele, viele Menschen im Laufe der Jahre kennengelernt – und auch viele verloren“, erzählt er. Die Sterbebildchen, die er aufbewahrt, sind mittlerweile zu einem großen Stoß angewachsen. Da tut’s ihm gut, eine neue Generation bewirten zu dürfen. Und das hat mit Corona zu tun.
Sue ist eine von den „Neuen“, eine von denen, die in der Zeit der Restaurant-Schließungen von einem Freund mitgenommen wurde und seitdem regelmäßig kommen. Selbstverständlich rückt da einer der jüngeren Stammtische rund um Elektromeister Klaus Schilling zusammen, hier hat Stefan Richter mittlerweile auch seinen eigenen Krug fürs Bier. Und von dort aus finden generationsübergreifende Gespräche statt – wo kommt man den anderen so nah, die man sonst nicht kennenlernen würde, weil sie so viel älter sind, weil sie eine andere Partei wählen, weil sie in einer anderen Blase leben?

Sue: „Der Mangoldshubert hat mich in Corona gerettet – alles andere war ja zu“ und damit war es sehr einsam für viele Menschen in Münnerstadt. Sie ist hängengeblieben, wie so viele, was nicht nur am süffigen Klosterbier liegt. „Es liegt ganz einfach an der Atmosphäre in dieser urigen Kneipe – und vor allem am Wirt.“

Nur fürchtet sie: Jede Zeile über „den Mangoldshubert“ könnte dazu führen, dass die Plätze in dem kleinen Gastraum bald hart umkämpft sein könnten. Stimmt. Vielleicht muss der Mangoldshubert dann auf seine alten Tage noch Plätze für Neue reservieren. Denn die Zeit bleibt nicht für immer stehen.
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