Die kleine Überraschung zuerst: Entgegen der Gepflogenheit hatte das Frühlingskonzert des Bayerischen Kammerorchesters Bad Brückenau (BKO) im König-Ludwig-I-Saal dieses Mal kein Thema oder Motto. Es wäre aber auch nicht einfach gewesen, eines zu finden – außer den 340. Geburtstag von Johann Sebastian Bach .
Denn das Programm, das dieses Mal nicht Sebastian Tewinkel, der Chef, sondern die Geigerin Christine Busch zusammengestellt hatte und deren Aufführung sie auch als Konzertmeisterin leitete, hatte eigentlich keine übergeordneten Gemeinsamkeiten.
„Barock meets Gegenwart“
Am ehesten würde es „Barock meets Gegenwart“ oder so ähnlich treffen. Aber das wäre banal. Denn das gilt für jedes Programm, das sich nicht auf eine einzige Epoche oder Phase fokussiert. Was eher gepasst hätte, wäre die kontrastierende Darstellung der Spieltechnik und ihres Wandels zum Thema zu machen.
Denn wer sich Christine Busch ins Haus holt, muss damit rechnen, dass sie genau das thematisiert (und sie hat es ja auch getan). Schließlich gilt sie nicht ohne Grund international als gefragte Fachfrau für das barocke Musizieren.

Aber allzu groß und eindrucksvoll konnte der Kontrast im Frühlingskonzert nicht werden. Dazu waren die beiden zeitgenössischen Stücke einfach zu kurz und zumindest das eine auch nicht gewichtig genug.
Eine Überraschung gleich zu Beginn in Bad Brückenau
Die große Überraschung gab’s gleich zu Beginn: Bei Francesco Venturinis Suite e-Moll. Denn da ging einem die gerne verwendete, aber deshalb trotzdem unsinnige Floskel von einem „zu Unrecht vergessenen Werk“ durch den Kopf. Denn wer sagt oder entscheidet, was in einem solchen Fall Unrecht ist. Bezeichnenderweise hört man nie den Spruch vom „zu Recht vergessenen Kunstwerk“. Vielleicht ist da die Dunkelziffer einfach zu hoch.
Dass Venturinis Suite erst vor kurzem ausgegraben wurde, dass ihn lange niemand auf der Rechnung hatte, lag vielleicht daran, dass sich der erste Teil seines Lebens weitgehend im Schatten der Öffentlichkeit abspielte.

Vermutlich wurde er um 1675 in der Region Brüssel geboren und italianisierte seinen Namen, was die Musiker damals gerne taten, um sich interessanter zu machen. Aktenkundig greifbar wurde er erst, als er nach seiner Heirat 1698 Kammermusiker und 1714 Kapellmeister der Hannoveraner Hofkapelle, einer ersten Adresse, wurde.
Zu Unrecht vergessen
Er muss gut gewesen sein und gute Beziehungen gehabt haben, denn 1718 bekam er den Auftrag, in Gotha eine Hofkapelle zu gründen. Sein Todestag ist präzise bekannt: 18. April 1745.
Venturinis e-Moll-Suite war wirklich zu Unrecht vergessen. Denn zumindest so, wie sie die Brückenauer spielten, ist sie eine quicklebendige, ideenreiche Musik, die zwar genau der traditionellen Form mit einer dreiteiligen französischen Ouvertüre und fünf stilisierten Tanzsätzen folgt, aber außerordentlich dicht und unterhaltsam gesetzt ist.

Und die mit leichter Hand und präziser Durchhörbarkeit musiziert war, wobei die beiden Blockflöten (Jorunn Kumkar und Lydia Walka) sehr schön herausgestellt waren. „Fratres“, das zumindest vom Namen her bekannteste Stück des Esten (und Wahlberliners) Arvo Pärt , war nur bedingt eine Brücke in die Gegenwart. Kompositorisch und stilistisch führt der Satz natürlich in die 1970er Jahre.
Aber inhaltlich – das signalisiert schon der Titel – kann die Musik klösterliche Assoziationen des Meditativen, geradezu Hypnotischen wecken. Der Kontrabass etwa muss über weite Strecken nur einen einzigen Ton spielen. Aber so einfach das melodische Fortschreiten der langen Akkorde klingt, so schwierig sind sie zu spielen.
Großes Kompliment für Interpretation
Denn es darf nicht die kleinste Irritation oder Ungenauigkeit passieren (nicht einmal Vibrato), denn das würde den Eindruck sofort beschädigen. Da konnte man den Brückenauern nur ein großes Kompliment machen für ihre perfekte, dynamisch differenzierte und hoch spannende Interpretation.
Und direkt im Anschluss, attacca, Johann Sebastian Bachs Violinkonzert a-Moll, das den Zuhörer aus seiner Trance kippen konnte: sehr zupackend musiziert, rhythmisch prägnant, mit kräftigen Farben und klaren Dialogen zwischen der Solovioline und dem Tutti. Und mit einem träumerischen Mittelsatz, in dem Christine Busch ihre Violine singen ließ.
Atemzäsuren und überspielte Impulse
Die beiden Ecksätze waren trotz des hohen Tempos virtuos von allen Beteiligten musiziert. Aber hätten sie wirklich so schnell sein müssen. Gut, der Eingangssatz hat keine Bezeichnung, aber über dem Schlusssatz steht nur ein Allegro assai, kein Presto. Das ist vielleicht der Fluch der tiefen Kenntnis, dass man dann zum Treiben neigt.
Denn was dabei ins Hintertreffen geriet, waren die Atemzäsuren und die überspielten Impulse, die die eigentliche Spannung auslösen.

Bei Georg Philipp Telemanns Sinfonia spirituosa D-Dur erlag niemand der Versuchung des Eilens. Das verbot eigentlich schon der Titel. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf eine glasklare Artikulation und eine ausgezeichnete Balance zwischen den Stimmen zwischen Sanglichkeit und Vortrieb – und auf einen feinfühlig musizierten Mittelsatz – und letztlich, trotz des Titels, zu guter Laune.
Die zweite Brücke in die Gegenwart schlug „Mondenweben“ von Wolfram Graf, der unter anderem als Dozent an der Bayreuther Hochschule für evangelische Kirchenmusik unterrichtet. Er hat sicher Gewichtigeres geschrieben als diesen sechsminütigen Satz, in dem die Solovioline technisch und klanglich effektvoll losgelöst vor sich hin spielt und immer mal wieder von kurzen, spontan wirkenden Einwürfen des Orchesters unterbrochen wird. Gespielt war das perfekt, aber die Frage, wie es zu dem Titel kommen konnte, musste unbeantwortet bleiben.
Rarität als Zugabe
Natürlich endete das Konzert auch mit J. S. Bach und seinem berühmten 4. Brandenburgischen Konzert – „das mit den Flöten“. Auch hier ging man flott zu Werke, aber nicht so stark wie bei dem Violinkonzert . Man konnte den virtuosen Zugriff genießen, aber auch die klarere Strukturierung, und die Musik hatte genug Bewegungsfreiheit, um federnd zu wirken. Und im Schlusssatz war die Eile ja auch legitim. Denn da steht „Presto“ drüber.
Als Zugabe spielten die Brückenauer eine Rarität: eine pfiffige Zwischenaktmusik (sie wurde im Theater während des Bühnenumbaus gebraucht) des Engländers Henry Purcell .