Dies ist eine wahre Geschichte. Das heißt, sie ist wirklich passiert. Vor kurzem erst stand ein Bericht darüber in der Zeitung. Die Geschichte begann an einem kalten Novembertag im Wald von Oneonta, einer Stadt in Amerika. Im Wald von Oneonta wachsen die größten Tannenbäume, die man sich vorstellen kann. Manche sind so groß wie ein Haus.
In der großen Stadt New York gibt es ein riesiges Einkaufszentrum, das Rockefeller Center. Es wurde benannt nach Herrn Rockefeller, einem sehr reichen Mann. Wenn man in Amerika sagt: „Ich bin doch nicht Rockefeller!“ bedeutet das, dass derjenige kein Geld hat. Nun ist es seit fast 90 Jahren so üblich, dass in der Weihnachtszeit vor dem Rockefeller Center der mittlerweile berühmteste Weihnachtsbaum der Welt steht. Jedes Jahr werden dort feierlich die Lichter am Weihnachtsbaum entzündet.
Nun aber zu der Geschichte: An einem kalten Tag im November kam ein großer Laster in den Wald von Oneonta gefahren. Alle Rehe, Füchse und Dachse versteckten sich schnell zwischen den Bäumen und die Vögel flatterten erschreckt davon. Die Tiere waren es nämlich nicht gewöhnt, dass sie Besuch bekamen.
Nur ein Vogel bekam davon nichts mit: ein Käuzchen, das im höchsten Tannenbaum des Waldes wohnte. Der kleine Kauz schlief noch, denn er war es gewöhnt, tagsüber zu schlafen und nachts umherzufliegen.
An diesem Nachmittag schlief er tief und fest in seinem Nest hoch oben im Tannenbaum. So bemerkte er nichts davon, dass ein Lastwagen auf der Waldlichtung parkte und zwei bärtige Männer in warmen Jacken und Wollmützen ausstiegen. Sie gingen suchend im Wald umher und schauten dauernd nach oben. Die Tiere lugten neugierig aus ihren Verstecken hervor und fragten sich, was die Männer dort wohl suchten. Schließlich nickten sie beide und gingen zum Lastwagen. Die Tiere atmeten erleichtert auf. Endlich würden die beiden Männer wieder wegfahren! Sie fürchteten sich nämlich ein wenig vor den Menschen.
Doch die beiden Männer kamen zurück. Sie hatten etwas aus dem Lastwagen geholt. Der Mann mit der blauen Mütze hatte eine Motorsäge in der Hand und der Mann mit der roten Mütze ein Seil. Sie gingen zu dem Tannenbaum, in dem das Käuzchen wohnte. Der Mann mit der blauen Mütze sägte den Tannenbaum ab und der Mann mit der roten Mütze band ein Seil um den Stamm. Dann schleppten die beiden den Baum zum Lastwagen, banden ihn dort fest und fuhren davon.
Der kleine Kauz hatte von all dem nichts mitbekommen. Er schlief immer noch in seinem Nest. Als er schließlich mitten in der Nacht aufwachte, wunderte er sich über die seltsamen Geräusche, die ihn umgaben. Laut war es und ein dauerndes Rauschen umgab ihn. Aber der Wind war es nicht. Er blinzelte und öffnete seine gelben Augen. Und sah direkt in ein Paar grüne Menschenaugen. Der kleine Kauz erstarrte vor Schreck. „Wen haben wir denn da?“ fragte die Stimme vergnügt, „einen blinden Passagier?“ Es war der Mann mit der roten Mütze, der vor ihm stand. Er wollte gerade mit seinem Kollegen den Baum aus Oneonta vor dem Rockefeller Center aufstellen. Denn da der Baum so schön und so groß war, hatten sie ihn als den diesjährigen Weihnachtsbaum für das Rockefeller Center ausgesucht.
Der Mann nahm die Mütze ab und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Was mache ich jetzt mit dir? Ich kann dich doch nicht hier lassen. Du hast bestimmt Hunger!“ Er holte sein Handy aus der Tasche und rief seine Frau an. Das tat er nämlich immer, wenn er nicht weiter wusste. Seine Frau hatte immer einen Rat für ihn. So war es auch dieses Mal. „Am besten, du packst ihn in eine Kiste. Dann bringst du ihn mit nach Hause. Bis du daheim bist, werde ich mir etwas einfallen lassen, was wir mit dem kleinen Käuzchen machen sollen.“ Der Mann war erleichtert. So würde er es machen! Er nahm den kleinen Vogel vorsichtig in seine behandschuhte Hand und legte ihn auf seine weiche rote Mütze. Die Mütze mitsamt dem Käuzchen legte er in seine Werkzeugkiste und stellte diese vorsichtig in den Fußraum des Lastwagens. „Was machst du denn da?“ wollte sein Kollege mit der blauen Mütze wissen, der mit zwei dampfenden Kaffeebechern zum Lastwagen zurückkam. - „Ach, nichts!“ erwiderte der andere Mann beiläufig. Er wollte nicht, dass sein Kollege ihn vielleicht auslachte, weil er einen Vogel mit nach Hause nahm.
Als der Mann mit dem Käuzchen in seiner roten Mütze sein Haus betrat, hatte seine Familie schon alles vorbereitet: Seine Frau hatte alle Nachbarinnen angerufen, um ihnen von diesem außergewöhnlichen Vorfall zu berichten. Außerdem hatte sie den Vogelschutzverein angerufen, um sich über Käuzchen zu informieren. Die Tochter hatte dem Käuzchen ein gemütliches Bett in ihrem Puppenwagen eingerichtet. Und der Sohn hatte einer der beiden Katzen eine Maus abgeluchst, damit das Käuzchen etwas zum Abendessen hatte.
Das Käuzchen verschlang die Maus mit großem Appetit und schaute den Jungen mit seinen großen gelben Augen auffordernd an. Der Junge verstand sofort, sauste los und konnte die andere Katze gerade noch davon abhalten, ihre soeben gefangene Maus zu verspeisen. So bekam das Käuzchen noch eine zweite Maus zum Abendessen und schlief erschöpft, aber zufrieden in der roten Mütze im Puppenwagen ein. „Wie wollen wir ihn nennen?“ fragte das Mädchen und betrachtete aufmerksam das schlafende Käuzchen. „Wir nennen ihn Rockefeller!“ schlug der Junge vor. Das Mädchen nickte und deckte Rockefeller mit einer geblümten Puppendecke zu, damit er es schön warm hatte.
Am nächsten Tag fuhr die Familie zum Rockefeller Center, wo der riesige Tannenbaum schon aufgestellt war. Hier sah er noch viel größer aus als im Wald von Oneonta.
Das Mädchen hatte das Käuzchen im Puppenwagen dabei. „Wir sind da!“ sagte sie und beugte sich zu Rockefeller hinunter, „hier ist dein Baum!“ Rockefeller blinzelte. Er hatte den ganzen Tag fest geschlafen. Schon wieder befand er sich beim Aufwachen an einem anderen Ort! Es wurde allmählich dunkel. Aber da er gute Augen hatte, erkannte er seinen Baum gleich. Er streckte die Flügel aus und erhob sich in die Luft, um zu seinem Nest hoch oben im Baum zu fliegen. Die rote Mütze hatte er im Schnabel. Das Nest war zwar etwas zerknautscht, aber noch bewohnbar. Er polsterte es mit der roten Mütze aus. Zufrieden schaute er aus seinem Nest heraus. Was für einen phantastischen Blick er von hier aus hatte! Er sah viele Menschen und Dinge, die er zuvor noch nie gesehen hatte. Allmählich kamen immer mehr Menschen zu dem Platz, auf dem sein Baum stand. Dann drückte der Bürgermeister auf einen Schalter und Rockefellers Baum erstrahlte bunt geschmückt im Glanz tausender kleiner Lichter. An der Spitze funkelte ein großer mit Kristallen besetzter Stern.
So schön hatte sein Baum noch nie ausgesehen, fand Rockefeller. Und die vielen Menschen, die sich vor seinem Baum versammelt hatten, fanden das wohl auch. Jedenfalls hörte Rockefeller viele begeisterte Rufe.
Nun begann für Rockefeller die schönste Zeit seines Lebens. Tagsüber schlief er wie gewöhnlich. Abends und nachts schaute er aus seinem Nest und genoss die Freude der Menschen über seinen schönen Baum. Alle bewunderten sie ihn, wenn sie daran vorübergingen oder auf der Eisbahn vor dem Baum Schlittschuh liefen.
Das Mädchen und der Junge besuchten ihn jeden Tag. Der Junge brachte ihm Mäuse mit und das Mädchen Nüsse. Die Menschen kamen mit Ferngläsern zu seinem Baum, um ihn aus der Nähe betrachten zu können. Und rote Mützen sowie Käuzchen aus Plüsch waren restlos ausverkauft. Bald war Rockefeller selbst so berühmt wie der Weihnachtsbaum vor dem Rockefeller Center.
Fotos von ihm waren in allen Zeitungen: wie der Junge ihm eine Maus hinhielt, wie er auf der Hand des Mädchens saß, um Nüsse zu knabbern und wie er zu seinem Baum flog. Es gab sogar ein Foto von ihm, wie er in seinem Nest auf der roten Mütze saß. Dieses Foto hatte ein Fotograf mit seinem Quadrocopter aufgenommen. Rockefeller hatte sich gewundert, was das für ein eigenartiger Vogel war, der ihm da Besuch abstatten wollte.
So schön sein Leben in der großen Stadt auch war, allmählich vermisste er die anderen Vögel und seinen Wald. Schließlich kamen immer weniger Menschen zu seinem Baum. Irgendwann wurden auch die Lichter an seinem Baum abgehängt. Eines Tages kam wieder der Mann, der ihn hergebracht hatte. Er hatte eine bunte Wollmütze auf dem Kopf. Die hatten ihm seine Kinder zu Weihnachten geschenkt, weil seine rote Mütze ja in Rockefellers Nest lag. Der Mann baute den Baum ab und legte ihn auf den Lastwagen. Seine Kinder halfen ihm dabei. „Wir fahren dich wieder nach Hause!“ sagte der Junge zu Rockefeller, der verunsichert aus seinem Nest lugte. Das Mädchen lächelte ihn an und reichte ihm Nüsse aus ihrer Hand.
Sie fuhren den Baum zu einem Viertel am Stadtrand, in dem viele arme Menschen wohnten. Diese freuten sich sehr über den Baum, denn nun konnten sie aus dem Holz von Rockefellers Baum Häuser für ihre Familien bauen.
Dann fuhr der Lastwagen den weiten Weg zum Wald von Oneonta. Als sie endlich an der Stelle angekommen waren, wo Rockefellers Baum gestanden hatte, stiegen sie aus und machten Picknick im Schnee mit heißem Tee und Keksen.
„Nun musst du dir einen neuen Baum suchen!“ sagte der Junge zu Rockefeller. Dieser blinzelte ihn freudig an. Er konnte es kaum erwarten, den anderen Tieren von seinem Ausflug zu berichten. Sie schauten schon neugierig hinter den Baumstämmen hervor und freuten sich, dass Rockefeller wieder da war. Ja, von dem Namen, den man ihm gegeben hatte, würde er ihnen auch erzählen. Schon breitete er die Flügel aus, um zu seinem neuen Baum zu fliegen. „Warte!“ sagte das kleine Mädchen, „du hast etwas vergessen!“ Sie streckte Rockefeller die rote Mütze hin. Rockefeller blinzelte das Mädchen an, nahm die rote Mütze in den Schnabel und flog davon.
Er wusste schon, welchen Baum er sich aussuchen würde. Eine ganz kleine Tanne würde es dieses Mal sein. Sein Ausflug in die große Stadt war zwar sehr schön gewesen, aber solch eine Aufregung wollte er nicht noch einmal erleben. Nächstes Jahr sollte lieber jemand anderes in die große Stadt reisen!
Über die AutorinCarolin Sell ist von Beruf Sozialpädagogin und arbeitet als Fachkraft für sprachliche Bildung in einem Kindergarten. In Hammelburg und Umgebung ist sie bekannt durch Theateraufführungen und Online-Auftritte mit den von ihr gestalteten Handpuppen „Hamfred Hammel“, „Saalea Saalenixe“ sowie „Quadriga & Quantus“. Nun wurde sie von einem aktuellen Zeitungsartikel zu dieser Weihnachtsgeschichte inspiriert.