Helmut Krumnacker ist 70 Jahre alt. Ein richtiges Zuhause hat er nie gekannt. Als er 14 war, riss er zum ersten Mal aus - weg von den Eltern und den Geschwistern und der bedrückenden Kindheit im Pott. Ab und an legte er eine Stippvisite zu Hause ein, doch lange hielt er es in der Wohnung in Dortmund nie aus. Der Junge schlug sich durch als Fabrikarbeiter, Knecht in der Landwirtschaft und als Arbeiter auf dem Bau. Ein Heim hatte er nie.
"Nur ganz kurz hatte ich mal eine eigene Wohnung", sagt er. Doch das ist lange her. So lange, dass es Helmut Krumnacker schon fast vergessen hat. Mehr als 40 Jahre ist er durch Herbergen im ganzen Land gezogen, machte in verschiedenen Kolonien Station. Kolonien wie dem Heimathof Simonshof, der nun seit zwölf Jahren so etwas wie das Zuhause von Helmut Krumnacker ist.
1970 kam der rastlose Weltenbummler zum ersten Mal auf den Simonshof, sieben Jahre später führte sein Weg wieder am Heimathof nahe Bastheim im Landkreis Rhön-Grabfeld vorbei. Bei jedem Besuch blieb er länger. Seit Anfang der Neunziger wollen ihn seine Beine nicht mehr recht tragen. Wohin soll er auch gehen? Der Kontakt zu einer Schwester ist schon lange abgebrochen. "Seit 30 Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen", sagt er. Fast ein bisschen wehmütig sieht er dabei aus. "Als Kinder sind wir mal zusammen im Urlaub gewesen." Daran erinnert er sich noch. Ob andere Verwandte noch am Leben sind und wo sie sich aufhalten, weiß Helmut Krumnacker nicht. Will es auch nicht wissen.
Er ist das Paradebeispiel des ewigen Junggesellen. Früher war er stets allein unterwegs, zog beständig weiter von einem Ort zum nächsten. Ohne Ziel, einfach soweit die Füße trugen. "Ich habe immer das Weite gesucht. Meine Füße haben gebrannt, aber ich bin weiter gegangen." Der 70-Jährige lächelt, während er spricht.
Auch heute verspürt er noch hin und wieder Lust, einfach zu gehen, dem Hof den Rücken zu kehren und wieder hinaus in die Welt zu ziehen. "Aber das hat keinen Zweck mehr", sagt er, und sein Lächeln schwindet. Denn Helmut Krumnacker ist alt, schwach und krank. Er hat sein Zimmer im Pflegeheim Camillus am Heimathof schätzen gelernt. "Es ist ruhig, und die Toiletten sind sauber."
102 Euro hat er im Monat in seinem Geldbeutel. "Taschengeld mit Rente", wie er sagt. Wahrlich kein Luxus. Einmal in vier Wochen geht er damit zum Einkaufen, fährt nach Bad Neustadt oder Ostheim, kauft Lebensmittel, Tabak, auch mal ein Fläschchen Bier.
Schlag 2004 ist alles anders. Seither muss er einen großen Teil vom kleinen Geld für Medikamente ausgeben, die er dringend braucht. "Mit 54 hab ich Asthma bekommen, Magen und Herz machen auch Probleme", sagt Krumnacker. 20 Euro im Monat zahlt er für Medikamente zu, die er vorher kostenfrei erhalten hat. Ein weiteres Medikament für 19 Euro soll er nun ganz bezahlen - Helmut Krumnacker versucht, ob es auch ohne geht.
Er fällt damit genau in das Raster, das der Paritätische Wohlfahrtsverband ankreidet: Die medizinische Versorgung armer Menschen hat sich laut Verband mit der Gesundheitsreform drastisch verschlechtert. Betroffen sind 414 000 Behinderte, Obdachlose, Suchtkranke und Heimbewohner. Viele von ihnen können sich selbst bei Notfällen den Gang zum Arzt eigentlich nicht mehr leisten und müssen auf notwendige Medikamente, Zahnersatz oder Brille verzichten.
Die Stimmung unter den Bewohnern im Pflegeheim Camillus am Simonshof ist seit der Reform gedrückt. Abteilungsleiterin Gudrun Völkner geht das Ohnmachtsgefühl, das die Menschen empfinden, unter die Haut. "Als ich einem Heimbewohner mitgeteilt habe, dass er künftig für seine Medikamente zahlen muss, ist er in Tränen ausgebrochen. 'Ihr nehmt mir auch das Letzte' hat er geschrien und ist auf seinem Stuhl zusammengesunken." Gudrun Völkner bekommt heute noch eine Gänsehaut, wenn sie sich an die Szene erinnert. Die Tränen hat Helmut Krumnacker vergossen.
82 Bewohner zählt das Camillus-Pflegeheim am Heimathof Simonshof derzeit, nur für elf Bewohner werden laut Völkner die Heimkosten voll aus Sozialhilfemitteln getragen. Acht Männer nehmen die Sozialhilfe gar nicht erst in Anspruch. Alle anderen tragen die Kosten zumindest anteilig selbst - die Rente muss in voller Höhe eingebracht werden. Die Heimkosten werden durch Pflegeversicherung, Rente, Wohngeld und Sozialhilfe gedeckt.
Die Bewohner erhalten gerade einmal fünf Prozent ihrer Rente als Zusatzbarbetrag zu dem Sockelbetrag von 87 Euro im Monat, die ihnen laut Vater Staat zustehen. Gudrun Völkner macht nach der Gesundheitsreform die Rechnung auf: Bis Ende vergangenen Jahres hatten die Männer, die am Heimathof leben, zwischen 87 und 130 Euro zur freien Verfügung, zum Beispiel für Friseurbesuche, Kosmetikartikel, Kleiderreinigung, Reparatur der Schuhe und Zeitungen.
Seit diesem Jahr sieht die Welt anders aus. Aus diesem Barbetrag müssen nämlich die Praxisgebühren für den Hausarzt, den Zahnarzt, den Notarzt bzw. den ärztlichen Bereitschaftsdienst am Wochenende bezahlt werden - "letzterer auch mehrmals, wenn ein Bewohner Pech hat", wie Völkner sagt. Dazu kommen Zuzahlungen für Medikamente, Inkontinenzartikel, Krankengymnastik, Fußpflege und die Fahrtkosten für Facharztbesuche.
Medikamente, die nicht verschreibungspflichtig sind, zahlt die Krankenkasse in der Regel nicht mehr. Die ersten Wochen nach der Reform warfen viele Fragezeichen auf: Was sollen die Heimbewohner, deren Leben auf der Straße sichtliche Spuren hinterlassen hat, nun tun, wenn sie ein freiverkäufliches Medikament benötigen, das 94 Euro kostet, sie selbst aber nur 87 Euro im Monat zur Verfügung haben?
Gudrun Völkner findet klare Worte: "In Deutschland sollten nur noch die alt oder krank werden, die es sich leisten können!" Sie ist wütend und erzählt von einem Fall aus ihrem Büroalltag, der den Irrsinn des geschaffenen Systems offenbart. 87 Euro hat ein Heimbewohner monatlich in der Tasche. In den ersten zehn Wochen des Jahres musste er bereits 103,57 Euro Zuzahlungen leisten. Dazu benötigte er weitere Medikamente, welche die Kasse nicht mehr übernimmt.
Auch wenn die Krankenkasse einen Teil der Zuzahlungen wieder rückerstattet - zunächst muss das Geld für die Medizin ja irgendwo her kommen. Das Problem: Die Heimbewohner haben nichts Erspartes, auf das sie zurückgreifen können, die Sozialhilfeträger wollen für solche Fälle nicht aufkommen, die Banken gewähren keinen Kredit. Wer sich woanders Geld leiht, sitzt schnell in der Schuldenfalle.
Was bleibt? Wer dazu körperlich noch in der Lage ist, geht auf die Straße und bettelt. Wer das nicht kann, blickt auf ein verwaistes Medizinschränkchen. Wer zuschaut, wird wütend. "Deutschland bewegt sich auf das Niveau eines Entwicklungslandes zu", macht Völkner ihrem Ärger Luft. Nikolaus Schmitt, Abteilungsleiter für die Sozialen Dienste am Simonshof, ist ebenfalls sauer. "Die Fehlleistung fängt schon damit an, dass Beamte und Abgeordnete von der Reform ausgenommen sind. Das zeigt doch, dass die Situation armer Menschen die Politik überhaupt nicht interessiert und man für sozial Schwache kein Verständnis aufbringt."
Verständnis hat Lothar Weisleder, genannt "Locke", auch nicht - nicht für den Staat. Seit 1994 lebt er auf dem Simonshof. Bis Ende der 80er Jahre hatte Weisleder alles: einen Job, eine Familie, ein Heim. Bis der Sohn starb, die Ehe daran zerbrach und Lothar Weisleder von Verzweiflung beherrscht wurde. Er lief vor allem davon, hinaus auf die Straße. Sechs Jahre lang war sie sein Zuhause. Bis der Obdachlose brutal ausgeraubt wurde. Per Mundpropaganda hatte er vom Heimathof gehört, dort wollte er hin. Mitte Mai marschierte er in Magdeburg los, im Juli kam er in Bastheim an. Auf dem Heimathof lebt er in einem Zimmer, das nicht dem Pflegebereich angegliedert ist.
Krank ist der 62-Jährige schon lange. "Die Pumpe will nicht mehr so richtig", sagt Locke. Wegen seiner Herzbeschwerden ist er auf Medikamente angewiesen. Doch die sind teuer - zu teuer für Lothar Weisleder. "Jetzt nehme ich keine mehr. Mal schauen, wie lange es gut geht." Ein neues Rezept ist erst im nächsten Monat wieder fällig, wenn sein Taschengeld auf dem Kontoauszug erscheint. 175 Euro müssen ihm reichen, um vier Wochen über die Runden zu kommen. Wenn das Geld alle ist, ist Zapfenstreich. "Betteln kann ich nicht", schüttelt er den Kopf.
Er hat "einen gehörigen Prass auf die Politik". Und hofft - auf eine Reform der Reform, die medizinische Versorgung für sozial Schwache nicht zum Luxusgut erhebt. Darauf wartet er. "Solange die Pumpe mitmacht."