„Das ist der Herr Eyer.“ Elisabeth Lenhardt deutet am Tisch unter der Küchenlampe auf ein schon etwas angebräuntes Portrait eines stattlichen Mannes, von dem das Sterbebildchen sagt, dass er 1895 im Sudentenland geboren wurde und 68 Jahre später in Wermerichshausen diese Welt verlassen hat. Herr Josef Eyer war Zahnarzt und kein schlechter, wie sich Elisabeth Lenhardt erinnert. „Der hat sogar Gebisse gemacht.“ Vielleicht war er auch nur so kurz nach dem 2. Weltkrieg der einzige weit und breit.
Schon deshalb sind die Leute der umliegenden Dörfer mit dicken Backen zu dem beinamputierten Mann gepilgert, um sich Zähne plombieren oder ausreißen zu lassen. Der hatte seine Praxis genau dort, wo jetzt Elisabeth Lenhardt ihren Sonntagsbraten zubereitet. Die Küche misst vielleicht 15 Quadratmeter und diente dem aus der Heimat vertriebenen Eyer für einige Zeit zusammen mit seiner Schwester nicht nur als Behandlungsraum, sondern auch als Wohn-und Schlafstadt.
Das Dorf-Original
Über eine ganze Reihe der Namen auf den schwarz umrandeten rechteckigen Kärtchen weiß Elisabeth Lenhardt Einiges zu sagen. Viele hat die 71-Jährige noch selbst gekannt, die nach 1950 Gestorbenen eigentlich alle. Wie Eugen Kehl, der als Original in den Annalen des Dorfes geführt werden müsste, wenn es denn welche gäbe. Der Landwirt, Steinhauer und passionierte Jäger (1895-1972) wusste nicht nur ein gutes Glas und ein deftiges Essen zu schätzen, sondern auch die amerikanischen Jagdgäste des Rod & Gun-Clubs zu unterhalten, obwohl er kein Wort englisch sprach.
So werden sie denn an diesem dunklen Novemberabend zumindest in der Erinnerung für kurze Zeit wieder lebendig, der Herr Eyer aus dem Sudetenland und der Eugen Kehl, die wie alle in dem Album schon lange ins Reich der Toten hinabgestiegen sind und Gefahr laufen, ganz vergessen zu werden. Das trifft vor allem auf jene zu, die keine hervorgehobene Position innehatten, sondern ein ganz normales leben führten.
Genau hierin liegt auch die Triebfeder für Elisabeth Lenhardts Handeln. „Das müsste doch erhalten bleiben“, kam es ihr eines Tages in den Sinn, als ihr vor mittlerweile zwölf Jahren wieder einmal die in einem Karton aufbewahrten Sterbebildchen von Mitgliedern ihrer Familie in die Hände fielen. Bei der eigenen Familie blieb es freilich nicht. Fortan fragte sie bei ihren Mitbürgern nach und wurde in vielen Häusern fündig. So kam sie auch in den Besitz des bislang ältesten Totenzettels. Der fordert zum „frommen Gedenken an die ehr-. und tugendsame Jungfrau“ Anna Alzheimer auf, deren Vater einmal Lehrer in Wermerichshausen war. Anna Alzheimer starb 1898 im Alter von 46 Jahren.
Die Menschen starben früh
Besonders alt wurden die Leute damals allgemein nicht. Das wird deutlich, wenn man sich die Totenbildchen aus der Zeit um 1900 näher ansieht. 50, vielleicht 60 Jahre – dann war das Ende des Lebensweges gekommen. „Viele Leute arbeiteten damals als Steinhauer, die wurden nicht alt“, erklärt dazu Elisabeth Lenhardt. Die ersten Totenzettel mit Portraits der Verstorbenen zeigen Soldaten, die während des 1.Weltkrieges ums Leben kamen. Elf Männer aus Wermerichshausen ereilte zwischen 1914 und 1918 dieses Schicksal. Der 2. Weltkrieg riss dann noch größere Lücken in die Reihen der Bevölkerung. 21 junge Männer fielen, von etlichen fehlt jede Spur.
Erst in den 60er Jahren dann wurde es in Wermerichshausen üblich, den Toten auch mit einem Bild zu gedenken, das erste Farbbild wurde 1999 verwendet. In einer eigenen Abteilung sammelt Elisabeth Lenhardt die Sterbebildchen der Pfarrer, die einmal in Wermerichshausen gewirkt haben. Unter ihnen war auch Karl-Josef Bartels, der von den Nazis verfolgt wurde.
Jedes Jahr Anfang Dezember nach einem Gebetsabend lädt Elisabeth Lenhardt Nachbarinnen ein, um das Album mit den Totenbildchen anzuschauen und sich mit Geschichten und Anekdoten der Verstorbenen zu erinnern. Wie etwa an Arnold Peschel aus dem Sudetenland, der in der Nachkriegszeit in der Schreinerwerkstatt von Elisabeth Lenhardts Vater mitgeholfen hat und der immer zu sagen pflegte: „Mit Kunst und Fleiß wird's ausgefiehrt und was noch fehlt wird zugeschmiert“.
Das Stichwort
Totenzettel: Die Vorgänger der heute üblichen Sterbebildchen tauchten das erste Mal im 17. Jahrhundert auf. Der älteste Würzburger Totenzettel stammt aus dem Jahre 1672.