Leonard erinnert an Michel aus Lönneberga. Blonde Haare, ein Lausbubengesicht mit Sommersprossen und kecke Augen. „Papa, noch eine“, fordert der Dreijährige energisch. Der Vater, Michael Sell, zaust ihm zärtlich durchs Haar, bückt sich, hebt eine Walnuss aus dem nassen Gras auf und knackt sie auf. Er pult die Haut ab, damit die Nuss nicht bitter schmeckt.
Am 15. Oktober vor drei Jahren bekannte sich Michael Sell, damals Hammelburger Stadtpfarrer der katholischen Kirchengemeinde St. Johannes, zu seiner Lebensgefährtin Andrea und Sohn Leonard. Der Rest ist Geschichte und schon zigmal erzählt. Denkt er an diese Tage zurück, schnauft er kurz tief durch: „Das Jahr danach war nicht einfach, auch wenn man es im Nachhinein glorifiziert.“ Heute ist er dankbar und angekommen in seinem neuen Leben. „Ich bin mit ganzem Herzen Leiter der Jugendbildungs- und Begegnungsstätte Babenhausen und freue mich, wenn ich nach getaner Arbeit zu meiner Familie heimkomme.“
Noch liegen gut 70 Kilometer zwischen Arbeitsplatz und Wohnort. Doch im März nächsten Jahres bekommt der kleine Leonard ein Geschwisterchen. Deshalb überlegen die jungen Eltern den Lebensmittelpunkt nach Babenhausen zu verlegen. Das Zerrissensein zwischen zwei Orten hat seinen Preis. Es fehlt die Zeit zum Sport treiben, zum Freundeskreis pflegen, zum Anschluss finden an eine christliche Gemeinde.
Dürfte Michael Sell überhaupt Gottesdienste mitfeiern und zur Kommunion gehen? Jetzt huscht ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht: „Die Kirche weiß nicht, was sie mit uns machen soll. Wir leben außerehelichen Geschlechtsverkehr, aber in Treue.“ Da scheiden sich die Kirchengeister. Hat er noch Träume als Priester? „Ich würde gerne als Ehrenamtlicher meinen überlasteten Priesterkollegen aushelfen und Gottesdienste übernehmen, damit sie gute seelsorgerische Arbeit leisten können.“ Er unterstützt die Forderungen der Reformgruppe „Wir sind Kirche“. Engagieren tut er sich nicht, es mangelt schlichtweg an der Zeit. Respekt zollt Sell der Hammelburger Gruppe „Kirche in Bewegung“, die sich nach seiner Suspendierung gründete: „Das Donnerstagsgebet ist toll, hier wird Gemeinde gelebt, gemeinsam gebetet.“ Das vermisst Michael Sell.
Und als großer Weinliebhaber vermisst er natürlich auch das Frankenland. In seiner neuen Heimat trinkt man lieber Bier. Deshalb versucht er sich momentan als Hobbywinzer. Er hat auf dem großzügigen Außengelände der Bildungsstätte einen kleinen Weinbergsgarten angelegt. „Mit lauter resistenten Rebsorten wie Gutedel, Regent und Muskateller.“ Mal schauen, ob die Weinstöcke hier gedeihen.
Sehr gedeihlich sei die Zusammenarbeit mit seinen 34 Voll- und Teilzeitkräften. Ein pädagogisches Team kümmert sich um die Seminare und bindet die Praktikanten mit ein. Das Gästehausteam kümmert sich um eine ausgewogene und regionale Verköstigung der Seminarteilnehmer und pflegt das weitläufige Garten- und Freizeitgelände. Insgesamt stehen 40 Zimmer mit 83 Betten zur Verfügung. Für einen reibungslosen Ablauf sorgt die Verwaltungsgruppe.
Jeden Tag um 10.30 Uhr gibt es eine gemeinsame Brotzeit der Beschäftigten. „Es ist wichtig, einmal am Tag gemeinsam an einem Tisch zu sitzen“, erklärt Michael Sell. Manches Problem kommt so nebenbei zur Sprache, und manche Idee wird so neu geboren.
„Ich habe keinen Bürojob mit festen Arbeitszeiten, sondern viel Gestaltungsfreiräume“, umreißt Sell sein Aufgabengebiet. Spannend sei die Bandbreite an Charakteren, denen er als Leiter der Jugendbildungsstätte begegnet. Überwiegend hat er mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun. Aber Seminare belegen auch Kräuterfrauen, Erzieherinnen, Polizisten, Manager, Ehrenamtliche oder Politiker. „Unser Haus ist zudem für Musik-, Jugend- und Erwachsenengruppe mit eigenem Programm buchbar.“
Michael Sell sieht sich als Türöffner zu neuen Welten. „Bei uns öffnen sich die Menschen, orientieren sich. Wir stärken in unseren Seminaren junge Ehrenamtliche, die Gruppen leiten, helfen ihnen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Sie sind Multiplikatoren in unserer Gesellschaft.“ Mitgenommen habe er eine Devise aus seinen Pfarrerszeiten: „Wer hierher kommt, soll glücklicher weggehen.“
Häufig trifft Michael Sell sich mit seinen Kollegen, den anderen zwölf Leitern der Jugendbildungsstätten vom Bayerischen Jugendring. Momentan bereiten sie eine sogenannte Klimawoche mit Workshops- und Meditationen vor, die nächstes Jahr zeitgleich an allen bayerischen Begegnungsstätten stattfindet. Auch mit der Fakultät Erziehungswissenschaften der Universität Augsburg ist Sell verknüpft und entwickelt gerade das Kurskonzept „Auszeit für Studierende und Profs“. Viel Zeit in Anspruch nehmen die Sitzungen in München mit dem Bayerischen Bundesjugendring und dem Bezirk Schwaben, den beiden Trägern der Jugendbildungsstätte.
An die Zeit in Hammelburg denkt Michael Sell gerne zurück. „Mit manchen Menschen von damals werde ich immer verbunden bleiben“, sagt er. Auch wenn die Besuche seltener werden, weil er in seinem neuen Lebensumfeld stark eingebunden ist.