Alexander (Name von Redaktion geändert) streitet sich oft mit seiner kleinen Schwester. Seiner Mutter strapaziert er die Nerven und in der Schule die seines Lehrers. Alexander ist ein ADS-Kind (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) mit Tendenz zur Hyperaktivität. Das haben Jugendpsychiater in Würzburg diagnostiziert und ihm das Psychopharmakon Ritalin verordnet.
Ein dreiviertel Jahr nahm der heute elfjährige Junge aus einem Hammelburger Stadtteil das Aufputschmittel ein, zuletzt die höchste Dosis mit eineinhalb Pillen morgens, einer mittags und einer halben am Abend. Sobald die Wirkung des Ritalin jedoch nachgelassen hat, "ist er explodiert", sagt die Mutter und hat das Medikament eigenmächtig abgesetzt. Vor allem auch, weil ihr Sohn unter den Nebenwirkungen des Psychopharmakons gelitten hat. Aus ärztlicher Sicht müsste Alexander weiterhin Ritalin nehmen, doch die Mutter ist konsequent, bereut sogar, dass sie ihrem Sohn die Pillen gegeben hat.
Alexander leidet auch heute noch unter Konzentrationsschwächen, ist zappelig und unruhig im Schulunterricht. Die Familie hat jedoch einen anderen Weg gefunden, diese Defizite zu bekämpfen, indem jeder an seinem Verhalten gearbeitet hat. ADS ist nach Meinung der Mutter zum Teil auch eine Folge falscher Erziehung. In ihrem Falle habe es oftmals an der nötigen Konsequenz gefehlt, sieht die junge Frau heute ein. Eine Erziehungsberatung hält sie deshalb für angebrachter, als eine medikamentöse Behandlung. Die Ärzte würden viel zu leichtfertig Ritalin verschreiben. Auch hätten sie keine Zeit für Beratung oder andere Therapieformen. Mitunter dauere es Monate, einen Arztermin zu bekommen, und dann säße man noch Stunden im Wartezimmer. Auch Alexander verzichtet lieber auf Ritalin, obwohl die Schule unter dem Einfluss des Aufputschmittels gefühlsmäßig "nicht so lange ert hat". Auch müsse er sich ohne Pillen mehr anstrengen, um konzentriert dem Unterricht folgen zu können. Trotzdem sagt der Elfjährige selbstbewusst: "Ohne Tabletten geht's auch."
Die gleiche Meinung vertritt die Mutter des zehnjährigen Tobias (Name von der Redaktion geändert) aus dem Altlandkreis Hammelburg. Auch bei ihm haben die Ärzte ADS mit Hyperaktivität diagnostiziert und eine Behandlung mit Ritalin erwogen. Doch "diese Tür wäre die letzte, die ich nehmen würde", sagt seine Mutter. Sie ist fest entschlossen, das Syndrom ohne Medikamente in den Griff zu bekommen. Seit ihr Sohn die Schule besucht, ist sie deshalb auf der Suche nach Therapien und Wegen, die ihrem Kind helfen könnten.
So ließ sie ihren zappeligen Sohn auf eigene Kosten von einer Naturheilpraktikerin therapieren. Erstaunlicherweise brachte sie ihn während der Sitzungen zur Ruhe, ganz ohne Medikamente. Gleichzeitig machte Tobias eine Ergotherapie und stellte seine Ernährung um. Außerdem treibt er jetzt viel Sport und hat seit kurzem einen eigenen Hund, mit dem er herum tollen kann. Das Tier ist für den Zehnjährigen sogar wie ein Spiegel. Denn ist er aufgedreht, schlägt sich seine Gefühlswelt auch auf den Hund nieder. Jetzt könne sich der Kleine viel besser selbst kontrollieren, hat die Mutter beobachtet.
Die Familie hat sich längst mit der Hyperaktivität von Tobias arrangiert und gelernt, mit seiner Art und Weise umzugehen. Auch wird offen darüber gesprochen. Einzig die Schule bleibt ein Problem für den kleinen Zappel-Philipp. Denn aufgrund seiner Unkonzentriertheit bringt er es nur zu mittelmäßigen Leistungen. Doch auch dieses Defizit lässt die Mutter nicht zu Ritalin greifen, wie das vielfach praktiziert wird. Stattdessen hat sie sich an Selbsthilfegruppen gewandt, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen und Tipps zu bekommen, wie man ohne Pillen die Konzentration in der Schule festigen kann.
"Wir Erwachsene müssen noch viel lernen im Umgang mit solchen Kindern", meint die junge Mutter und kritisiert, dass viele Eltern die Probleme ihres Kindes mit Medikamenten wie Ritalin vertuschen.
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Am kommenden Samstag geht's weiter mit der Serie Pillenkinder. Schulpsychologen und Beratungslehrer nehmen dann Stellung zu diesem Problem.