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Bad Kissingen: Claus Fussek in Bad Kissingen: Ein Klima der Angst in der Pflege

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Claus Fussek in Bad Kissingen: Ein Klima der Angst in der Pflege

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    Pflegeexperte und Pflegekritiker Claus Fussek sprach auf Einladung der Saale-Zeitung in Bad Kissingen.
    Pflegeexperte und Pflegekritiker Claus Fussek sprach auf Einladung der Saale-Zeitung in Bad Kissingen. Foto: Angelika Despang

    Der Saal im Hotel Bayerischen Hof platzte schier aus allen Nähten. Immer mehr Interessierte kamen zum Vortrag von Claus Fussek, der auf Einladung der Saale-Zeitung nach Bad Kissingen gekommen war, um über das Thema „Wie sollen Sie im Alter in Bad Kissingen leben, wohnen – und gepflegt werden?“ zu sprechen.

    Es war ein intensiver Abend, mit emotionalen und leidenschaftlichen Gesprächsbeiträgen. Im Anschluss an die Veranstaltung baten nicht wenige Besucher in persönlichen Gesprächen, dass das schwierige und wichtige Thema der „schlechten Pflege “ in der Öffentlichkeit weiterverfolgt werden müsse.

    Redaktionsleiterin Susanne Will bat die Gäste sowie alle Leserinnen und Leser der Saale-Zeitung, die mit einer schwierigen Pflegesituation konfrontiert sind, die Missstände feststellen, die sich einem unübersichtlichen und bürokratischen System der Pflege gegenübersehen, sich in der Redaktion zu melden. „Wir möchten Ihre Erfahrungen hören und sichern Ihnen Anonymität zu.“

    Ängste stehen im Vordergrund

    Anonymität – ein Stichwort für Claus Fussek. Der Pflegeexperte kritisiert seit 40 Jahren das Pflegesystem. Viele Menschen wenden sich mit ihren Beschwerden, Fragen und ihrer Hilflosigkeit an ihn, stets mit der Bitte um Anonymität. „Zwei Drittel meiner Informanten sind Pflegekräfte , 99 Prozent wollen anonym bleiben.“

    Von einem „Klima der Angst “ sprach er in seinem Vortrag.

    Pflegekräfte , die Missstände nicht länger tragen wollen, haben Angst vor Mobbing und vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.

    Angehörige, die mangelhafte Pflege bemängeln, haben Angst , dass ihre pflegebedürftigen Eltern im Anschluss noch schlechter behandelt und vernachlässigt werden, gleiches gelte für Pflegebedürftige , die, so es ihnen überhaupt noch möglich ist, Kritik zu üben, Angst vor Misshandlungen haben.

    Er selbst kenne das Klima der Angst und des Ausgeliefertseins aus eigenen Erfahrungen: „Ich konnte meine eigene Mutter nicht beschützen. Sie beschwor mich ,aus Angst heraus, dass ich mich nicht beschwere.“

    „Niemand will schlechte Pflege“

    Fünf Millionen pflegebedürftige Menschen gebe es in Deutschland, hinter jedem Einzelnen stehe ein Schicksal. In Pflegeheimen seien eine Million Menschen untergebracht, um die anderen vier Millionen kümmern sich Angehörige, Freunde oft mit Unterstützung durch mobile Pflegedienste.

    „Niemand will schlechte Pflege , aber warum haben wir sie dann?“, fragt sich Fussek seit 40 Jahren und musste eingestehen, dass alle Forderungen und Mahnungen bislang nichts gebracht haben. Nach wie vor gebe es Pflegemissstände und einen Personalschlüssel, der für eine menschenwürdige Pflege nicht reiche.

    „Alle wissen Bescheid, wie die Situation in Pflegeheimen ist und alle hoffen, dass es nicht so ist. Dabei betrifft das Thema früher oder später jeden.“

    „Warum ändert sich nichts? Bei diesem Thema kann es keine Gegner geben“, betont Fussek. Die Bewohner, die Angehörigen, die Pflegekräfte , die Politiker, die Kranken- und Pflegekassen und selbst die Heimträger können nichts gegen gute Pflege haben.

    Pflegekräfte in der Pflicht

    Fussek versteht sich als Vertreter von alten Menschen, von Behinderten, von Menschen, die sich „wehrlos und völlig schutzlos ausgeliefert“ am letzten Lebensabschnitt befinden. Fussek sieht die Pflegekräfte in der Pflicht, sich zu solidarisieren und gegen bestehende Vorgaben aufzustehen.

    „Ich erwarte von Pflegekräften in den Einrichtungen, aber auch in den Krankenhäusern, dass sie endlich mal den Mund aufmachen und sagen: das können wir leisten und das können wir nicht leisten.“

    Ethische Grundsätze leben

    Menschenwürdige Mindestanforderungen in der Pflege seien nicht kompromissfähig. Das beginne bei ausreichend Flüssigkeit, genügend Zeit für Mahlzeiten bis hin zu frischer Luft. Und: Menschliche Zuwendung dürfe keine „nicht finanzierbare“ Zusatzleistung sein.

    „Wenn Pflegekräfte ihren ethischen Grundsatz leben würden, dann könnte es diesen Wahnsinn in Deutschland nicht geben. Eine Pflegekraft , die alte Menschen schlecht behandelt und vernachlässigt, ist nicht Opfer, sondern Täter. Es gibt keine Rechtfertigung für Verletzung der Menschenrechte in der Altenpflege.“

    Empörung der Erben

    Pflegekräfte sind laut Fussek Anwälte der ihnen anvertrauten Menschen. „Ein Großteil der Menschen, die in der Pflege arbeiten, haben eigentlich in diesen Beruf nichts zu suchen. Wir haben in der Pflege so viel schlechte Pflegekräfte , die in keinem Tierpark eine Stelle, wegen fehlender Empathie bekommen würden.“

    Eine menschenwürdige Pflege koste Zeit und Geld. Die Frage sei, ob die Gesellschaft bereit sei, die Kosten für eine würdevolle und anständige Pflege zu tragen. Die Empörung – meist der Erben – sei schnell groß, wenn das Eigenheim verkauft werden müsse, um einen Heimplatz zu finanzieren

    "Das ist eine Humankatastrophe"

    „Die Pflege ist in den letzten Jahrzehnten an die Wand gefahren, weil es niemand interessiert“, sagt Fussek. „Wir haben Personalmangel, holen Pflegekräfte aus allen möglichen Ländern, fragen nicht nach Qualität und danach, ob sie in ihren Ländern gebraucht werden. Über 500.000 Frauen aus Osteuropa stabilisieren die häusliche Pflege in Deutschland. 80 Prozent arbeiten schwarz. Das ist eine Humankatastrophe.“

    Für Fussek stellt sich die Frage: „Ein Großteil spricht kein Wort Deutsch. Wie kommt man auf die Idee, seinen dementen Angehörigen einem Menschen anzuvertrauen, der sie nicht versteht? Darüber redet kaum jemand.“ Bitte kein Doppelzimmer

    Sollte in Bad Kissingen oder in einer Landkreiskommune ein neues Pflegeheim geplant werden, rät Fussek, sich einzumischen. „Warum baut man Pflegeheime mit Doppelzimmer, in die keiner hineinwill? Doppel- und Mehrbettzimmer sind menschenunwürdig.“

    Als Fehler bezeichnet es Fussek, die Pflege Börseninvestoren zu überlassen. „Bestimmen Sie mit, wer die Trägerschaft bekommt.“

    Er sagt: „Alle Pflegeheime müssen palliativ ausgerichtet sein.“ Da gelte nicht nur für die Pflegekräfte und Ärzte, sondern auch für die Hausmeister, die Reinigungskräfte und den Koch.

    Was macht ein gutes Heim aus?

    Woran erkennt man ein gutes Heim? Hellhörig sollte man werden, wenn die Heimleitung auf Nachfrage sage, dass es keine Beschwerden gebe. „Es kann kein Heim ohne Mängel geben“, so Fussek.

    Neben Pflegekräften arbeiten in einem gut geführten Heim Psychologen, Sozialpädagogen und Seelsorger. Wenn man jemand in einem Heim besuche, reiche ein Blick: Wie ist die Person angezogen und frisiert? Wo steht das Getränk und wo liegt der Notrufknopf?

    Kommunale Aufgabe

    Fussek schlägt vor, dass ehrenamtliche „Paten oder Kümmerer“ in die Heime gehen, um alte Menschen zu unterstützen, mit ihnen an die frische Luft gehen und zuhören. „Dort wo man sie mit offenen Armen empfängt, dankbar ist, dass sie kommen, ist das ein gutes Zeichen für ein Heim. Gute Pflegekräfte wissen, das ist keine Konkurrenz.“

    Pflege sieht Fussek als kommunale Aufgabe der Daseinsvorsorge. Stichwort: demenzfreundliche Gemeinde. Dazu gehöre eine flächendeckende Tagespflege zur Entlastung der Angehörigen. Nachbarschaftshilfen müssten aufgebaut werden.

    Weigern nach Minuten zu pflegen

    Eine Wortmeldung kam schnell aus dem Publikum: Es wurde kritisiert, dass Pflegetätigkeiten nach Minuten getaktet werden. Fussek: „Niemand, auch kein Politiker und Kassenvertreter möchte nach Minuten gepflegt werden.“ Es seien Orientierungswerte, die sich nicht am Bedarf orientieren. „Das Problem ist, die Pflegekräfte machen das mit.“

    Damit war Fussek bei den ethischen Grundsätzen zur ganzheitlichen Pflege . „Wenn alle Pflegekräfte sich weigern nach Minuten zu pflegen, weil sie auch nicht nach Minuten gepflegt werden wollen, dann ist das Thema vom Tisch.“

    Gesundheitswesen wurde kaputt gespart

    Eine Zuhörerin zweifelte an dem Ansatz: „Das geht nicht, weil die Pflegekräfte überhaupt nicht streiken können, weil wir immer die Versorgung der Patienten gewährleisten müssen.“ Das Gesundheitswesen sei kaputtgespart worden, während Aktionäre Millionen Euro ausgezahlt bekommen.

    Fussek: „ Pflegekräfte können sich ihren Arbeitsplatz aussuchen. Wären die Pflegekräfte immer schon solidarisch gewesen und hätten sich geweigert bei Börsenorientierten Trägern zu arbeiten, dann hätte ich das Thema Börse erledigt.“

    Junge Menschen im Pflegeberuf?

    Warum die Pflegekräfte nicht organisiert sind, war ein weiteres Thema. Die Pflegekräfte seien die mächtigste Berufsgruppe in Deutschland, nicht mal zehn Prozent seien in Gewerkschaften. In einem weiteren Diskussionspunkt ging es darum, wie jungen Menschen der Pflegeberuf überhaupt noch schmackhaft gemacht werden könne.

    Was sagen Besucher des Vortrags zum Thema:

    „Pflegekräfte haben keine Lobby“

    Gabriele Freund
    Gabriele Freund Foto: Angelika Despang

    Gabriele Freund: Die Altenpflegerin ist aus „beruflicher Neugier“, wie sie sagt, zu dem Vortrag von Claus Fussek gekommen: „Ich arbeite seit 35 Jahren in dem Beruf und die Situation der Pflegekräfte hat sich in dieser ganzen Zeit nicht geändert. Die Probleme sind die gleichen geblieben“, sagt die 54-Jährige.

    Den Vortrag des Pflegeexperten fand sie gut, „es stimmt, die Solidarisierung der Pflegekräfte untereinander ist notwendig. Sie haben keine Lobby.“ Sie wünsche sich, dass die Pflege als gesamtgesellschaftliches Problem angesehen werde und sich nicht nur die, die es betrifft darum kümmern müssten.

    „Mehr auf einander acht geben“

    Georg und Huberta Schall
    Georg und Huberta Schall Foto: Angelika Despang

     Huberta Schall: „Ich stehe kurz vor der Siebzig, ich habe keine Kinder – dieses Thema steht an“, begründet die 68-Jährige ihr Interesse an dem Vortrag. In der Nachbarschaft hilft sie immer wieder mit und hat ein Auge auf ihre Mitmenschen: „Als das Essen, das der Pflegedienst vor die Tür gestellt hatte, zwei Tage unberüht blieb, rief ich die Polizei. Der alleinstehende Senior war gestürzt.“

    Sie findet, die Menschen müssten  mehr auf einander acht geben:  „Statt  Ich das Du.“ Den Vortrag  fand sie sehr aufschlussreich, denn das sei ein Thema, das man oft vor sich her schiebe: „Jetzt habe ich erstmal ein paar schlaflose Nächte.“

    „Ruck durch die Gesellschaft “ und „Was machen wir mit  Oma?“

    Monika und Emil Müller
    Monika und Emil Müller Foto: Angelika Despang

    Emil Müller: Der stellvertretende Landrat (CSU) ist aus kommunalpolitischen Interesse zu dem Vortragsabend gekommen. Er sei ernüchtert, sagt Emil Müller, „wir diskutieren mit Leidenschaft unser eigenes Unvermögen.“ Seiner Meinung nach müsste sich die Einstellung der Gesellschaft ändern, „von Egoismus zu wieder mehr Gemeinschaftssinn.“ Dazu müsse ein Ruck durch die Gesellschaft gehen.

    Überrascht war der 66-Jährige über die große Zahl an interessierten Zuhörern, „das zeigt das große Interesse an der Pflege und wie aktuell das Thema ist.“

    Monika Müller: Die 62-Jährige weiß, wie sich pflegende Angehörige fühlen: „Ich habe Oma, Opa, Tante und Onkel zu Hause gepflegt.“ Außerdem habe sie sich immer wieder Zeit für alte Menschen genommen, lange bevor es die Aktion „Eine Stunde Zeit“ gab.

    Ihrer Meinung nach ging der Vortrag von Claus Fussek am Thema vorbei: „Mir fehlten Antworten auf die Frage: Was können wir für’s Alter machen? Und: Was machen wir mit  der Oma, wenn alle auf die Arbeit gehen?“ Die Pflege von Angehörigen werde nicht mehr als familiäre Aufgabe angesehen und Kinder bekämen dies nicht mehr vorgelebt.

    „Auch für uns wird Pflege ein Thema“

    Petra von Schön
    Petra von Schön Foto: Angelika Despang

    Petra von Schön: Die  71-Jährige leitet eine Gymnasikgruppe für Senioren und hat viel mit älteren Menschen zu tun, „aber auch für uns wird Pflege irgendwann ein Thema. Wir laufen darauf zu.“

    Die Bad Kissingerin hatte sich von dem Vortrag von Deutschlands bekanntesten Pflegekritiker mehr erhofft: „ Es wurden vor allem die Missstände aufgeführt. Aber die sind ja bekannt. Ich hätte mir gewünscht, dass mehr auf den Pflegeplatzmangel in der Region und auf die Pflegekräfte aus Osteuropa eingegangen wäre.“

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