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Bad Kissingen: Wie Grigory Sokolov das Publikum im Kissinger Sommer fesselt

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Wie Grigory Sokolov das Publikum im Kissinger Sommer fesselt

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    Grigory Sokolov beim Kissinger Sommer 2024.
    Grigory Sokolov beim Kissinger Sommer 2024. Foto: Gerhild Ahnert

    Es ist doch immer wieder erstaunlich, welche Anziehungskraft der Name Grigory Sokolov hat. Als er vor vielen Jahren erstmals beim Kissinger Sommer auftrat, war der Rossini-Saal alles andere als ausverkauft. Aber das änderte sich: Sokolov war der erste Pianist, der den Sprung in den Großen Saal schaffte und der später dafür sorgte, dass auch der Balkon geöffnet werden musste.

    Der Hype um ihn ist ständig größer geworden. Die PR der Agenturen („einer der größten Pianisten der Welt“, einmal sogar „der größte Pianist der Welt“) und die Presse haben ihn erfolgreich zur Kultfigur gemacht.

    Womit? Sicher liegt’s an seiner fabelhaften Virtuosität – die andere, auch Jüngere, allerdings auch haben. Ob er ein Womanizer ist, müssen die Frauen entscheiden. Es gibt immerhin Leute, die ihm nachreisen, obwohl sie in den Konzerten immer dasselbe Programm hören. Aber von wilden Partynächten in Sokolovs Hotels ist auch nichts bekannt geworden.

    "Weltmeister der Trillerer"

    Oder lag es wirklich am Programm? Sind zehn Sätze aus zwei Werken von Johann Sebastian Bach wirklich so attraktiv, auch wenn Grigory Sokolov sie spielt? Mit seinem trockenen, zu Beginn sogar knochentrockenen Anschlag ist sein Spiel zu 100 Prozent Analyse. Das ist natürlich gut für die Transparenz, wenn nichts verwischt ist, wenn man wirklich jede Stimme ganz genau verfolgen kann – auch weil die linke Hand dieselbe eigenständige Beachtung findet, wie die rechte. Und schließlich ist er ja auch der „Weltmeister der Trillerer“. Das ist schon bewundernswert, wie messerscharf präzise er die auch in schwierigen Situationen einsetzt.

    Aber was man vermissen konnte, war eine gewisse Emotionalität, die die Musik aus der distanzierenden Analyse herausholt und die man, wenn man sie auf einem Flügel spielt, ja durchaus auch erzeugen kann. Immerhin hat Bach seine Vier Duette BWV 802-805 aus: „Clavier-Übung Teil III“ für seine Frau geschrieben und nicht für den allgemeinen Gebrauch.

    Auch den sechs Sätzen der Partita Nr. 2 c-Moll BWV 826, die in ihrer Typisierung ganz präzise getroffen waren, hätte ein wenig persönliche Einfärbung gut getan. Offen muss die Frage bleiben, warum Sokolov – was er gerne tut – nicht nur die vier Duette und die Sätze der Partita praktisch ohne Zäsur aneinander hängte und auch die beiden Werke, die eigentlich nichts miteinander zu haben. Was will er damit erreichen? Da kann man als Publikum auch mal die Orientierung verlieren.

    Das Publikum irritiert?

    Das machte er auch bei Frédéric Chopins sieben Mazurken op. 30 und op. 50, die er offenbar gerne spielt und auch im Max-Littmann-Saal schon gespielt hat. Die hob er mit der üblichen Routine aus der Ebene der Effektmusik heraus, indem er ihr Affekte verlieh. Da war jedes Rubato, jedes Crescendo, jede Klangfarbe genau kalkuliert und saß bombenfest – bei der statistisch gesehenen 37. Aufführung in diesem Jahr kann man das freilich auch erwarten.

    Aber warum auch hier alle sieben Mazurken an einer durchgehenden Schnur? Von Chopin kann er diese Idee nicht haben; der musste in den Pariser Salons immer seine neuesten Kreationen spielen. Das Publikum wirkte etwas irritiert: Der große Bravo-Orkan kam erst bei den Zugaben.

    Eine Premiere für Bad Kissingen

    Und dann doch eine Premiere! Das hat er in Bad Kissingen , seit er hier gastiert, noch nie gespielt: Robert Schumanns op. 82, die „Waldszenen“. Ausgerechnet die „Waldszenen“! Das ist wirklich kein krachender Höhepunkt für einen Konzertabschluss. Als Zugaben-Pool wären sie ja verwendbar, aber so… Schumann hat sie, wie auch die „Kinderszenen“ oder die „Sonate für die Jugend“ erklärtermaßen für „versierte Amateure“ geschrieben. Also nicht unbedingt in die Finger von Grigory Sokolov. Vielleicht war es Mitleid, dass er den neunteiligen Zyklus ausgewählt hat, damit ihn jemand mal wieder spielt. Denn ins Standardrepertoire der Konzertprogramme gehört er nicht. Und es gelang Sokolov sogar, mit einer auffälligen Agogik und differenzierten Klangfarben mehr Geheimnisse zu erzeugen, als Schumann in diese Programmmusik hineingepackt hat.

    Nur zeigte sich hier mal wieder der absolute Unsinn der komplett ausgeschalteten Saalbeleuchtung. Denn man konnte die neun Titel der Sätze nicht lesen. Natürlich wird jetzt zu hören sein: „Da kann der Zuhörer unbeeinflusst besser seine eigene Fantasie spielen lassen.“ Aber dann hätte man schon den Gesamttitel nicht nennen dürfen. Vor allem aber hat sich ja auch Schumann seine Gedanken gemacht, was er vertonen und wie er es nennen will. Das hätte manche Gedankenspiele auslösen können. Und dann die üblichen sechs Zugaben – alle irgendwann schon einmal dagewesen.

    Wünsche an den großen Magier

    Was man sich wünschen würde? Dass Grigory Sokolov uns mal wieder überrascht. Dass er wieder von seinen lexikalischen Kleinklein-Programmen wegkommt und größere Werke spielt, die von echten, längeren Spannungsbögen leben. Dass er vielleicht einmal ein Werk spielt, bei dem auch er – was absolut ehrenhaft und konstruktiv wäre – mit der Musik kämpfen muss, und ein Konzert nicht als unterforderter versierter Amateur beendet. Und dass er seinen schmalen Repertoire- und Komponistenkorridor mal verlässt und dem Publikum zeigt, dass auch im 20. und 21. Jahrhundert gute Klaviermusik geschrieben wurde, die eine Erarbeitung und Aufführung lohnt. Und vielleicht dürfen wir auch mal wieder mit ein bisschen Licht in unsere Programme schauen, während der große Magier spielt.

    Eins sollte freilich nicht unerwähnt bleiben, denn Grigory Sokolov redet nicht darüber, aber es ist gut und wichtig, dass es bekannt wird: Unter dem Eindruck des Angriffs Russlands auf die Ukraine gab der gebürtige Leningrader seine russische Staatsbürgerschaft auf und entschied sich für die spanische – ein in der Musikwelt nicht häufiges, klares Statement.

    Weiteres vom Kissinger Sommer finden Sie hier:

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