Immer mehr Menschen sind deutschlandweit und auch im Landkreis Bad Kissingen von psychischen Erkrankungen betroffen. Welche Gründe hat das? Und wie kann man mentalen Problemen im Alltag vorbeugen?
Joachim Galuska ist Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychiatrie. Der 69-Jährige war 1990 einer der Gründer der Heiligenfeld-Kliniken in Bad Kissingen, bis 2019 deren ärztlicher Direktor und Geschäftsführer. Seitdem agiert Galuska als Gesellschafter. Im Gespräch mit dieser Redaktion gibt der Träger des Bundesverdienstkreuzes Tipps, wie psychische Erkrankungen vermieden werden können.
Wie entwickelt sich die Zahl psychischer Erkrankungen in Deutschland?
Verschiedene Studien belegen: Psychische Erkrankungen führen in Deutschland immer häufiger zu Arbeitsausfällen. Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sind jährlich aktuell 27,8 Prozent der Erwachsenen in Deutschland von einer psychischen Erkrankung betroffen.

Eine Studie der Krankenkasse AOK ergab, dass im Jahr 2022 rund 1,51 Millionen Menschen in Bayern an Depressionen litten. Die Zahl der Betroffenen im Bereich Main-Rhön ist laut AOK in den Landkreisen Bad Kissingen und Haßberge sowie in der Stadt Schweinfurt am höchsten.
Die AOK-Studie kam zu dem Ergebnis, dass im ersten Halbjahr 2024 im Vergleich zum Zeitraum vor fünf Jahren Häufigkeit und auch Dauer der Krankmeldungen wegen psychischer Erkrankungen um rund 25 Prozent angestiegen sind.
Welche Gründe gibt es für die Zunahme an psychischen Erkrankungen?
"Die Entwicklung hat mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Überforderung zu tun. Die Menschen kommen mit der Fülle dessen, was sie selbst bewältigen wollen, nicht gut genug zurecht", so Joachim Galuska. Das hänge auch mit der Komplexität der Welt zusammen. "Die Leute sind weniger gut vernetzt. Damit sind sie zwar freier, geben aber tiefere, tragfähige Beziehungen auf", so der Mediziner. In schwierigen Lebenssituationen fehle es deshalb oft an einem sozialen Auffangnetz. "Wir haben in den letzten Jahren eine unheimliche Zunahme an Einsamkeit und Isolation."

Auch Ängste spielen für Galuska eine entscheidende Rolle. "Angst ist ein Motor, der alle möglichen Reaktionen hervorruft. Sie führt zu Abwehrprozessen, kann nicht ausgehalten werden und findet einen anderen Kanal. Zum Beispiel chronische Erschöpfung, was wiederum zu einer Angststörung oder Depression führen kann." Viele Ängste seien gesellschaftlich begründet. "Es ging los mit Corona, dann die Corona-Maßnahmen, der Krieg in der Ukraine, Nahost, wirtschaftliche Ängste, das Klima sowieso", zählt Galuska auf.
Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht in der Corona-Pandemie den Auslöser für einen starken Anstieg psychischer Erkrankungen. Die Fälle von Depressionen und Angststörungen haben nach WHO-Angaben im ersten Pandemiejahr um rund 25 Prozent zugenommen.
Wie kann man im Alltag tun, um sich vor psychischen Erkrankungen zu schützen?
Man sollte seine Sorgen und Ängste nicht ausblenden, rät Galuska. "Die Ängste gehen ja nicht weg. Spätestens nachts holen sie mich ein. Ich würde eher von Erdung, von Realitätsverankerung sprechen. Welche Dinge gibt es in meinem Leben, die mich stabilisieren?" Es brauche einen inneren, stabilen Ort, den es zu finden gelte.
"Was ich durchaus machen kann: Kurse im Selbstmanagement", so der 69-Jährige. Zudem sollte man seine sozialen Beziehungen hinterfragen. "Welche Beziehungen verunsichern mich eher, welche tun mir gut? Wenn ich merke, dass mir Ängste über den Kopf wachsen, ist es an der Zeit, etwas zu finden, was tiefer und fundamentaler ist, als meine Ängste." Das wiederum gebe innere Stabilität.

Grundsätzlich sollte jeder Mensch sich fragen, was man für Körper, Geist und Beziehungen tun kann, so Galuska. "Manchmal hilft es, seinem Körper etwas Gutes zu tun: Sport treiben, abnehmen. Und aufhören, mir selbst auf körperlicher oder geistiger Ebene zu schaden. Mich auch zu fragen: Ist es gut, wenn ich dauernd am Smartphone hänge und mir immer wieder das mehr oder weniger Gleiche ansehe?"
Wann sollte man sich professionelle Hilfe suchen?
Das hängt laut Joachim Galuska stark von der Lebenssituation ab. "Und davon, wie gut ich mich kenne und mit mir umgehen kann. Frauen haben zum Beispiel viel mehr Möglichkeiten, ihre eigene Gefühlswelt zu betrachten. Aber sie leiden dann auch stärker darunter, wenn sie überfordert sind. Ich muss wissen: Welche guten Fähigkeiten habe ich, mit meinen Gefühlen und mit Stress umzugehen?"
Wichtig für die Einschätzung sei das soziale Umfeld. "Es wäre gut, wenn ich Menschen um mich herum habe, die mir sagen, dass etwas mit mir nicht stimmt. Freunde merken das schneller als ich selbst", so Galuska. "Wenn meine engen Freunde auf mich zukommen, wäre es an der Zeit, auch selbst ernsthaft darüber nachzudenken."
Galuska rät zu einem Stufenplan: "Zunächst sollte ich mit Freunden oder Verwandten sprechen und gucken, ob ich mich selbst besser regulieren kann. Ich kann auch etwas lesen oder in eine Selbsthilfegruppe gehen. Sobald ich selbst merke, dass ich mich besser balancieren muss, nehme ich auch schnell wahr, ob ich das mithilfe meines Umfelds schaffe."

Wenn das nicht funktioniert, rät Galuska zu professioneller Hilfe. "Spätestens, wenn ich merke, dass ich nicht mehr aus dem Bett komme, bei der ersten Krankschreibung, brauche ich diese Hilfe." Das sei nicht einfach, da das Angebot in Deutschland nicht ausreiche. Aber, so Galuska: "Der entscheidende Punkt ist, sich auf den Weg zu machen. Beim Psychotherapeuten muss ich einen Termin bekommen und eine qualifizierte Antwort, ob ich eine Therapie brauche."
Wenn eine ambulante Therapie schließlich nicht ausreiche, brauche es den Klinikaufenthalt. "Dort herrscht eine andere Intensität und Effektivität, die mir hilft, die Kurve zu kriegen. Ich muss innerlich etwas Gesundes finden, das mich dominiert, um aus der Erkrankungsspirale herauszukommen. Das ist im stationären Rahmen einfacher möglich."