Liebe Leserinnen und Leser,
wir erinnern mit der Serie "Menschen wie du und ich" an nicht-prominente Menschen aus dem Landkreis Bad Kissingen, die in jüngster Zeit gestorben sind. Wenn auch Sie wünschen, dass wir das Leben eines geliebten Menschen nacherzählen, kontaktieren Sie uns gerne per E-Mail an susanne.will@saale-zeitung.de. Dieser sehr persönliche Service ist mit keinen Kosten für die Hinterbliebenen verbunden.
Peter Schindler hat während seines Lebens viele Spuren hinterlassen und andere Menschen beeinflusst. Seine Enkelin Ramona Hoffart hat er wohl am stärksten geprägt. So ist die Geschichte seines Lebens auch ihre Geschichte.
In Geroda sitzt die 37-Jährige auf dem Wohnzimmersofa und versucht, das Leben ihres Großvaters in Zahlen zu fassen. Er wird am 15. September 1939 in Würzburg geboren. 14 Tage zuvor hatte die deutsche Wehrmacht Polen überfallen.
Als der Krieg einige Jahre später auch nach Deutschland kommt, zieht die Mutter mit ihm und seiner älteren Schwester Marianne nach Bad Königshofen.
Es ist die richtige Entscheidung. Am 16. März 1945 verwandeln Bomben innerhalb von 20 Minuten die Domstadt in ein Meer aus Flammen und Schutt. 5000 Menschen sterben, 90 Prozent der Altstadt sind zerstört.
Lehre als Stahlbauschlosser
Nach dem Krieg kehrt die Familie nach Würzburg zurück. Peter Schindler beginnt bei der Firma Aufzüge Schindler eine Lehre als Stahlbauschlosser. "Keine Verwandtschaft, reiner Zufall", erklärt Enkelin Ramona Hoffart. Alles scheint gut zu laufen. Er lernt Ulla kennen. Sie heiraten und bekommen 1964 Tochter Heike.

Aber das Leben der jungen Familie läuft schnell aus dem Ruder. Es gibt Probleme, schließlich trennt sich das Paar. Peter muss sich allein um die Tochter kümmern. Seine Mutter passt auf die Kleine auf, wenn er arbeitet. "Sie hat später nie den Kontakt zu uns gesucht", sagt Enkelin Ramona über ihre Großmutter. Die Ehe wird schließlich geschieden.

Ende der 60er-Jahre scheint alles besser zu werden. Während einer Kur in Bad Soden lernt Peter Schindler Hannelore kennen. 1970 heiraten sie und ziehen zwei Jahre später nach Geroda . Sie tragen das Elternhaus von Hannelore ab und bauen auf den Fundamenten ein neues Heim. Er findet eine Stelle bei Sinter Metall (heute GKN Sinter Metall) in Bad Brückenau.
Zwei Kinder sterben
Jetzt wird endlich alles gut, scheint es. Aber auch die zweite Ehe steht unter keinem guten Stern. Hannelore verliert zwei Kinder. Das erste Kind lebt nur eine halbe Stunde, ein Baby stirbt noch im Mutterleib.
Die Schicksalsschläge hinterlassen bei der Frau Spuren. Sie wird von Depressionen geplagt, muss immer wieder in die psychiatrische Klinik in Werneck eingeliefert werden.

Wieder muss Peter Schindler das Fehlen der Mutter ausgleichen, kümmert sich um Tochter Heike. DieTeenagerin lernt Michael Hoffart aus Brückenau kennen. Einige Jahre später heiraten sie. Als Heike 23 Jahre alt ist, kommt Tochter Ramona zur Welt. 1989 bekommen sie ihre zweite Tochter Melanie.
Die depressive Krankheit seiner zweiten Frau Hannelore belastet Peter Schindler . Doch seine Umgebung merkt davon nichts. Er strotzt vor Tatendrang, engagiert sich in vielen Vereinen und Institutionen: aktiv in der örtlichen Feuerwehr, Betriebsrat in seiner Firma, Vorstand im Kriegerverein, Gründer der Reservistenkameradschaft Geroda .

Schindler tritt in die SPD ein, ist Schriftführer bei der Rheumaliga, aktiver Fußballer, Mitglied der Deutschen Kriegsgräberfürsorge und beim Bundeswehr-Sozialwerk. Zwölf Jahre gehört er dem Gemeinderat von Geroda an.
Er geht 2002 in Rente und findet eine neue Leidenschaft. Er eignet sich das notwendige Fachwissen an und arbeitet als Stadtführer in Bad Kissingen, Hammelburg, Münnerstadt, Fulda und Würzburg.
Berichte für die Zeitung
Ramona Hoffart hat seine Mitgliedschaften und Funktionen handschriftlich auf einem Zettel notiert. Es sind einfach zu viele, um sie aus dem Kopf heraus lückenlos aufzusagen. Vielleicht fehlt auch etwas. Ganz sicher weiß die Mutter von zwei Kindern das nicht.
Auch das Schreiben liegt Peter Schindler im Blut. Neben seinen Tätigkeiten als Schriftführer für Vereine ist er auch mehrere Jahre freier Mitarbeiter der Saale-Zeitung und berichtet aus seiner Heimatgemeinde.

Wenn er sich für ein Thema interessiert, findet er keine Ruhe, bis er alles darüber weiß. Und er weiß viel. „Opa wäre der ideale Telefonjoker gewesen“, witzelt Ramona. „Er wollte, dass es uns gutgeht und alles in Ordnung ist.“ Er hat diesen Grundsatz immer gelebt, trotz aller Widrigkeiten und Schicksalsschläge.
In seiner Enkelin Ramona erkennt er einen Teil von sich selbst. Sie sind sich ähnlich. Peter Schindler kann aufbrausend sein, "manchmal flogen die Fetzen". Sie hat sein Temperament geerbt und bietet ihm die Stirn. Nach ein paar Minuten ist dann alles wieder gut – jedenfalls meistens.

Es kann aber auch Jahre dauern, bis eine Unstimmigkeit geklärt ist. "Für das alte Auto gebe ich dir kein Geld", ist seine lautstarke Antwort, als seine Enkelin um einen Zuschuss für ein eigenes Gefährt anfragt. Da helfen weder Bitten noch Argumente. Basta!
Nach zwei Jahren meldet sich offenbar sein schlechtes Gewissen. Er schenkt Ramona und ihrer Schwester aus heiterem Himmel jeweils 5000 Euro. Ein anderes Mal überrascht er die jungen Frauen mit neuen Waschmaschinen – einfach so.
Mensch mit vielen Facetten
Peter Schindler ist ein Mensch mit vielen Facetten. Er hat feste Überzeugungen, kann auch stur sein. Trotzdem hat er die Fähigkeit, seinen Standpunkt zu reflektieren und seine Meinung zu ändern. Diese Eigenschaft versöhnt seine Mitmenschen, wenn er wieder mal polternd mit dem Kopf durch die Wand will.

Der Tod kommt für Peter Schindler so, wie ihn sich viele Menschen wünschen: mitten im aktiven Leben, ohne Ankündigung, ohne Schmerzen.
Es ist der 19. April 2022. Mit einem Nachbarn hackt der mittlerweile 82-Jährige den ganzen Nachmittag Holz. Zwei Fuhren haben sie schon zu ofengerechten Scheiten verarbeitet.
Doch das reicht Peter Schindler noch nicht. Gegen 19 Uhr macht er sich auf den Weg, um neues Holz zu holen. "Ich fahre nochmal hoch und bin um 20 Uhr wieder da", ruft er seiner Frau zu. Die Stämme lagern in der Nähe des Sportplatzes, etwa eineinhalb Kilometer entfernt. Kein großes Ding für den Mann, der Arbeit gewohnt ist.

Es ist nach 20 Uhr und er ist noch nicht zurück. Seine Frau macht sich Sorgen, ruft Enkelin Ramona an. Doch die hat das Handy ausgeschaltet. An diesem Tag ist sie mit ihrer Cousine in der Therme KissSalis.
Die Großmutter macht Ramona Vorwürfe, als sie nach Hause kommt. Warum ist sie nicht ans Telefon gegangen? Schwierig, wenn man im Schwimmbad ist. Es hätte ohnehin nichts geändert.
Der Tod kommt am Holzplatz
Die Nachricht trifft die Familie wie ein Faustschlag, vollkommen unerwartet und brutal hart. Ein Bauer hat Peter Schindler kurz nach 19 Uhr am Holzplatz gefunden – er ist tot.
Großmutter, Mutter und Schwester stehen unter Schock, sind wie gelähmt. Die Kripo kommt, um ein mögliches Fremdverschulden zu untersuchen. Sie findet keine Hinweise. Peter Schindler stirbt vermutlich an einem Herzinfarkt.

In diesen schweren Stunden wird schnell klar, wie sehr er fehlt. Er war der Starke, der sich um alles gekümmert hat. Die Familie hat sich darauf verlassen, dass er jedes Problem lösen kann.
Enkelin Ramona ergreift die Initiative, so wie sie es bei ihrem Opa oft gesehen hat. Sie informiert den Bestatter, regelt alle Formalitäten.
Die Großmutter ist labil
Sie hat ein kleines Kind und ist wieder schwanger. Doch sie muss es tun. Die Großmutter ist labil und mit der Situation völlig überfordert. Die heute 37-Jährige weiß, was nach dem Tod eines Menschen zu tun ist. Ein halbes Jahr zuvor war die Stiefmutter gestorben.
Nach der Beerdigung eines nahen Angehörigen beginnt eine Zeit der stillen Trauer und der Erinnerung an einen geliebten Menschen. Doch für die Familie ist die Beisetzung Peter Schindlers der Beginn einer Kette von weiteren tragischen Ereignissen.

Großmutter Hannelore versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen, liegt auf der Intensivstation. Ramona hat gerade ein Mädchen entbunden. Weil sie kraft einer Patientenverfügung verantwortlich ist, eilt sie kurz nach der Geburt ans Krankenbett der depressiven Frau. Sie überlebt, doch die Leber ist stark angegriffen.
Es folgt ein weiterer Aufenthalt in Werneck. Danach verspricht die Oma: „Ich mache so etwas nie wieder!“ Doch das ist nicht die Wahrheit.
In die Sinn gegangen
Kurz vor ihrem 75. Geburtstag unternimmt sie einen weiteren Suizidversuch. Nach einer Physiotherapie in Bad Brückenau will sie sich in der Sinn ertränken. Sie wird von Passanten gerettet, muss wieder nach Werneck. Als sie wieder nach Hause kommt, macht sie einen stabilen Eindruck. So scheint es jedenfalls.
Dann kommt der 18. September 2023. Die Großmutter ist nicht im Haus. Ramona macht sich Sorgen. Sie nimmt ihre einjährige Tochter auf den Arm und sucht Hannelore. Sie geht zum Friedhof. Vielleicht will die Seniorin das Grab ihres verstorbenen Ehemanns besuchen. Doch dort ist sie nicht.
Eine Freundin hilft bei der Suche. Sie schauen im Garten, finden jedoch nichts. Ramona ruft die Polizei an, weil sie einen weiteren Selbstmordversuch befürchtet.

Während sie mit einem Beamten telefoniert, fällt ihr eine Krücke auf, die an den Kinderpool gelehnt ist. Sie hat ihr Kind noch auf dem Arm, läuft zu dem Planschbecken. Hannelore Schindler liegt darin.
Sie wird mit vereinter Kraft aus dem kleinen Pool gezogen. Versuche zur Wiederbelebung werden gemacht. Aber vergeblich, ihr Körper ist schon kalt.
Die Kriminalpolizei wird später feststellen, „dass ein starker Wille notwendig war“, um in dem Becken zu ertrinken. Das Wasser ist nur knapp 50 Zentimeter hoch.
Die Frau muss sich mit aller Kraft in das Becken geworfen haben. „Sie konnte ihr Bein doch nicht über den Rand heben“, sagt Ramona. Die Oma war stark gehbehindert und auf Krücken oder einen Rollator angewiesen.

Der kleine Pool wird kurz nach dem Vorfall abgebaut. Die Kinder sollen nicht mehr darin spielen. Schließlich ist ein Mensch darin gestorben.
Nach der Beerdigung der Großmutter ist die Frau mit ihren zwei Mädchen allein in dem großen Haus. Sonst ist niemand da. Auch Hund Maiki ist inzwischen gestorben.
Erinnerung an Kartoffelsalat
Erst jetzt, fast eineinhalb Jahre nach dem Tod ihres Großvaters, beginnt Ramona zu trauern. Sie weint, als sie daran denkt, wie der Opa für sie und ihre Schwester seinen unnachahmlichen Kartoffelsalat gemacht hat. Sie erinnert sich an den Tag, als Peter Schindler ihr eine riesige Bretzel mitgebracht hat, die sie sich um den kleinen Hals hängen konnte.
Ramona fängt neu an. Sie absolviert ein Fernstudium im Fach Psychologie. Es gibt wieder einen Mann an ihrer Seite. Sie wollen heiraten.
Es beginnt ein neues Kapitel der Geschichte, die Peter Schindler hinterlassen hat. Andere müssen sie nun schreiben. Sie handelt davon, dass nun alles gut wird. Endlich.
