Im Rahmen unserer Serie „Nachrufe auf Menschen wie Du und Ich“ berichtete die Redaktion kürzlich über Inge Reichert-Deurer . Die 73-Jährige aus Bad Kissingen hatte sich mithilfe der Sterbeorganisation Dignitas das Leben genommen. Seit 2020 ist es jedem erlaubt, sich beim Suizid helfen zu lassen, zum Beispiel, dass ein tödliches Mittel besorgt und bereitgestellt wird. Den Akt an sich muss der Sterbewillige selbst übernehmen. Häufen sich die Fälle in Deutschland? Womöglich auch im Landkreis Bad Kissingen?
Assistierte Suizide vermehrt in Unterfranken
Nachgefragt beim Polizeipräsidium Unterfranken in Würzburg. In der Vergangenheit sei das Thema „assistierte Suizide “ selten aufgetaucht, so ein Polizeisprecher. Seit 2024 allerdings trat das Phänomen „jedoch vermehrt auf“, so der Sprecher weiter. Statistisch werden die Fälle wie auch weitere Formen des Suizids als Selbsttötung erfasst, also nicht eigenständig dokumentiert. „Jedoch werden bereits Maßnahmen veranlasst, um die statistische Auswertung sinnvoller und effektiver zu gestalten“, so der Sprecher.
Dignitas-Gründer im Interview
Hat die Sterbehilfeorganisation Dignitas dazu Zahlen? Nachgefragt bei Dieter Graefe. Der Berliner ist Rechtsanwalt von Dignitas und deren Mitbegründer.
Herr Graefe, häufen sich die Einsätze Ihrer Organisation im Raum Bad Kissingen?
Das kann ich nicht sagen, wir führen keine Statistiken nach Orten – für unsere Abläufe ist das uninteressant.
Verzeichnen Sie nach der Änderung des Sterbehilfe-Gesetzes 2020 eine Zunahme in der Nachfrage Ihrer Dienste?
Ja, das Interesse ist groß, die Bekundungen, am Ende auf unsere Dienste zurückzugreifen, sind mehr geworden. Seit Februar 2020 verzeichnen wir etwa 550 Einsätze, wobei die Zahlen anfangs gering waren.
Hinter jedem Suizid, ob assistiert oder nicht, steht eine große menschliche Problematik.
In der Tat. Es ist auch für Angehörige sehr schwer. Aktuell beschäftigen wir uns mit einer 24-Jährigen, die unheilbar erkrankt ist. Seit acht Jahren ringt diese junge Frau mit schwerem Leid. Nun möchte die Frau sterben – und sie wünscht sich, dass ihre Mutter ihren Entschluss akzeptiert. Das ist sehr schwer. Wir möchten die Familie immer mit einbinden.
Wie im Fall in Bad Kissingen. Dort trug der Witwer die Entscheidung seiner Frau ebenfalls. Er sagte zu ihr: „Ich kann nicht von dir verlangen, dass du dich für mich weiter quälst.“ Nun wenden Kritiker ein, dass es in Deutschland ein gut ausgebautes Palliativ-Netzwerk gibt – niemand muss mit Schmerzen sterben.
Schmerzen für sich allein ist nicht das einzige, was zunächst zu schwerer Not führt. Oft ist es die Einsamkeit und die Aussichtslosigkeit, nicht wieder gesund zu werden.
Ich versuche einen Perspektivwechsel: Wie gehen Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit der Belastung um, Menschen bei der Selbsttötung zu helfen?
Es ist eine große Belastung für das Team. Was hilft, ist, dass die Mitarbeiter das Gefühl haben, Menschen in einer großen Notlage geholfen zu haben. Oftmals sind die Endphasen von Krankheiten sehr schlimm – und das erleben die Helferinnen und Helfer ja mit. Wenn dann im Vorfeld ein Dankeschön kommt, dass man ihnen hilft, dann wird damit auch den Mitarbeitern geholfen. Ich hatte neulich eine Begegnung mit einer 90-Jährigen. Sie wollte in ihrer letzten Stunde eine Flasche Sekt öffnen und mit uns anstoßen. Der Grund: Das sei der schönste Tag in ihrem Leben und sie freue sich sehr, dass sie ,elegant gehen‘ dürfe.
Das Bundesverfassungsgericht hat Hürden eingebaut, bevor sich Menschen das Leben nehmen dürfen, muss der Entschluss geprüft werden. Was prüfen Sie?
Wir eruieren sehr sorgfältig, ob die Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, eingehalten werden. Ganz wichtig ist die Freiverantwortlichkeit, dass der oder die Betroffene nicht von anderen beeinflusst wird. Das ist wichtig, um zu verhindern, dass im Hintergrund beispielsweise Erbschleicher stehen oder sich die Familie einfach eines alten, anstrengenden und pflegebedürftigen Menschen entledigen will.
Und was ist mit dem 20-Jährigen mit gebrochenem Herzen, der sich ein Leben ohne seine Freundin oder Freund nicht vorstellen kann und aus dem Leben scheiden möchte?
Nicht mit uns. Selbst wenn er das laut Bundesverfassungsgericht (BVG) dürfte! Doch wenn jemand so extrem unvernünftig eingestellt ist, lehnen wir das ab. 20 Jahre, Liebeskummer – er hat hier keine Chance.
Wie läuft das Verfahren ab?
Man muss ein Gesuch an den Verein stellen. Wir erwarten eine Darlegung der Situation, zu der der Betroffene aber nicht verpflichtet ist. Dann müssen wir alle Fragen prüfen, die das BVG hinsichtlich des assistierten Suizids vorgegeben hat: Freiverantwortlichkeit, die Person muss in der Lage sein, die Tragweite der Entscheidung zu verstehen und sie muss die Fähigkeit haben, darüber zu entscheiden. Der Suizidwunsch muss dauerhaft bestehen. Die Entscheidung muss frei von Druck oder Einfluss Dritter getroffen werden. Daneben muss die Person in der Lage sein, den Suizid eigenhändig auszuführen.
Das heißt, Sie stellen das starke Narkosemittel zur Verfügung, legen einen Zugang – der Mensch muss aber dafür sorgen, dass es in den Körper fließt, und einen Schalter deshalb betätigen?
Ja. Aber ich möchte noch einmal zurückkommen. Wenn alle Unterlagen bei uns eingegangen sind, dann verabreden wir uns zu einer Vorabprüfung. Wenn alle Voraussetzungen gegeben sind, geben wir grünes Licht. Die weitere Arbeit übernimmt dann unser weiterer Verein in Berlin.
Wie viele Ärzte und Ärztinnen arbeiten bei Ihnen? Bei den Vorbereitungen müssen ein Mediziner und ein Mitarbeiter anwesend sein.
Wir haben etwa 35 Ärztinnen und Ärzte und etwa ebenso viele Freitodbegleiter.
Und welche Kosten entstehen für den Lebensmüden?
Er muss in unseren Verein eintreten, die Aufnahmegebühr liegt bei einmalig 120 Euro, danach betragen die monatlichen Beiträge 20 Euro.
Und wie werden die Ärzte und Freitodbegleiter, die ja vor Ort sein müssen und oft anreisen, bezahlt?
Sie erhalten jeweils eine Aufwandsentschädigung, die auch abhängig ist von der wirtschaftlichen Situation des Suizidwilligen.
Und was kostet mich mein Freitod?
Das ist unterschiedlich. Im Normalfall zwischen 6000 und 9000 Euro als Gesamt-Zahlung.
Wie kommt denn diese Spanne zustande? Außerdem dachte ich, Sie seien ein Verein, der keinen Gewinn machen darf.
Mit der Summe finanzieren wir auch den Freitod derer, die Sozialhilfe beziehen und nichts bezahlen können. Wir haben noch niemals jemanden wegen Zahlungsunfähigkeit abgewiesen und empfinden das als gerecht. Zum Verein: Ja, wir sind ein Verein und erfüllen die Gemeinnützigkeit – die Gemeinnützigkeit ist jedoch noch nicht formal anerkannt. So können wir auch keine Spendenquittungen ausstellen. Allerdings erhalten wir auch wenig Spenden. Gegründet haben wir uns 2005, haben 2006 die Gemeinnützigkeit beantragt. Doch die wird Jahr für Jahr verfristet, wir schieben das weiter. Wir erfüllen die Kriterien, haben aber keine formale Anerkennung.
Das heißt, Sie machen Gewinn?
Nein. Das Geld wird so bemessen, dass es aufgeht – wir haben keine Gewinne. Wenn wir in einem Jahr beispielsweise 30.000 Euro einnehmen, dann gehen die im nächsten Jahr drauf. Wir haben daneben viele Kosten, die nicht gedeckt sind.
Was macht es denn so teuer?
Der Einsatz der Helfer und Mediziner, oftmals entstehen hohe Kosten für Anreisen.
Kritiker, allen voran gläubige Menschen, würden einwenden: Nein, das darf man nicht – nur Gott kann über das Ende bestimmen. Und bei ihm ist es kostenlos.
Sowohl unter rechtlichen als auch unter philosophischen Aspekten hat jeder Mensch das Recht, sein Leben und seinen Tod selbst zu bestimmen. Aus dem Grundgesetz ergibt sich das auch als den Artikeln 1 und 2.
Weitere Informationen zum Thema Sterbehilfe (von Nathalie Greß)
Bei der Fachstelle Suizidberatung in Würzburg mehren sich die Anfragen nach assistiertem Suizid. „In diesem Jahr haben sich deutlich mehr nach assistiertem Suizid erkundigt“, sagte Sonja Liebig, die Leiterin, in einem Beitrag der Main Post im November 2024. Die Rede ist von rund 30 Anfragen dazu.
Was ist assistierte Suizdi?
Die Beihilfe zur Selbsttötung, sie ist seit 2020 straffrei. Die Hilfe liegt in der Beschaffung und Bereitstellung eines tödlichen Medikaments. Verabreichen müssen sich die Sterbewilligen es sich selbst.
Was sagt das Gesetz?
2020 kippte das Bundesverfassungsgericht ein Verbot zur geschäftsmäßigen. Nun darf sich jeder – egal ob alt, jung, gesund oder krank oder lebensmüde - Hilfe bei der Selbsttötung holen.
Was sind die Voraussetzungen?
Der Sterbewillige muss frei verantwortlich entscheiden können. Er darf nicht aus einer akuten psychischen Störung heraus oder aus einem Affekt handeln. Er kennt mögliche Alternativen zum Freitod und führt diesen eigenhändig und ohne äußeren Druck aus. Der Staat hat gemäß dem Urteil dafür Sorge zu tragen und sicherzustellen, dass der Entschluss auf freiem Willen beruht. Eine Regelung dazu fehlt bislang.
Die Kritik
In dieser Grauzone debattieren viele heftig. Wie frei ist ein Depressionserkrankter in seiner Entscheidung? Oder ein Kranker, dessen Erspartes von der Pflege verbraucht wird? Oder ein Greis, der seiner Familie nicht zur Last fallen will?
Wer nimmt sich das Leben?
Nach Erfahrungen von Sonja Liebig von der Würzburger Fachstelle Suizidberatung sind es jugendliche und ältere Menschen, „um so mehr, wenn sie einsam sind“, sowie Menschen mit psychischen und chronischen Erkrankungen, starken Schmerzen, einer Sucht oder in einer akuten Krise.
Häufen sich Suizide?
Ja. 2023 nahmen sich bundesweit 10.303 Menschen das Leben, 1,8 Prozent mehr als im Jahr zuvor und 14 Prozent mehr gegenüber dem historischen Tiefstand von 2019. „Fachleute vermuten, dass die bundesweite Steigerung auch damit zu erklären ist, dass mehr Menschen assistierten Suizid in Anspruch genommen haben. Denn diese Fälle werden bisher nicht extra statistisch erfasst“, so Sonja Liebig.
Einen Zusammenhang sieht auch die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben e.V., eine von vier bundesweit aktiven Sterbehilfeorganisationen. Die Anfragen nach assistiertem Sterben „nehmen kontinuierlich zu“, so die DGHS-Sprecherin Wega Wetzel.
Welche Haltung vertritt die Suizidberatungsstelle?
„Jeder Mensch darf sich umbringen“, so Sonja Liebig. „Ich maße mir auch nicht an, ermessen zu können, was manche Menschen durchmachen. Aber sie sollen eine Wahlmöglichkeit haben. Denn was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn jemand denkt, sein einziger Ausweg sei der Tod?“
Hier finden Hilfe- und Ratsuchende Ansprechpartner – kostenfrei und rund um die Uhr:
Die Fachstelle Suizidberatung in Würzburg, getragen von Caritasverband und Diakonischem Werk, leistet Hilfe in kritischen Lebenssituationen. Sie ist Montag bis Freitag von 14 bis 18 Uhr für Hilfesuchende geöffnet, Kardinal-Döpfner-Platz 1, 97070 Würzburg.
In dieser Zeit ist die Beratungsstelle auch telefonisch erreichbar unter (0931) 57 17 17. Termine nach Vereinbarung sind möglich, ebenso Anfragen per E-Mail: info@fachstelle-suizidberatung.de. Mehr Infos: fachstelle-suizidberatung.de
Das Krisennetzwerk Unterfranken des Bezirks hilft bei psychischen Krisen und psychiatrischen Notfällen jeder Art. Es ist an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr erreichbar unter Telefon 0800 / 655 3000. Das Netzwerk vermittelt auch Notfalltermine, zum Beispiel bei Sozialpsychiatrischen Diensten. Mehr Infos: krisendienste.bayern
Die Telefonseelsorge der christlichen Kirchen ist durch ein Netzwerk an mehr als 100 Stellen bundesweit Tag und Nacht zu erreichen unter den deutschlandweit einheitlichen Nummern 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222.
Die Online-Beratungen U25 des Deutschen Caritasverbands und MANO des gemeinnützigen Trägervereins Niedrigschwellige Suizidprävention e.V. richten sich an junge suizidgefährdete Menschen unter 25 bzw. ab 26 Jahren: u25-deutschland.de oder mano-beratung.de