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Bad Kissingen: Stimmen im Kopf: Notruf bringt 22-Jährigen vor Gericht

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Stimmen im Kopf: Notruf bringt 22-Jährigen vor Gericht

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    Die Polizei bittet Zeugen um Hinweise. (Symbolbild)
    Die Polizei bittet Zeugen um Hinweise. (Symbolbild) Foto: Daniel Karmann/dpa

    Mitte April steht ein 22-jähriger Industriehelfer aus dem Landkreis Bad Kissingen vor dem Amtsgericht Bad Kissingen. Die Anklage: Missbrauch der Notrufnummer 110 und Besitz von Amphetamin. 

    Die Nacht des Notrufs

    Es ist der 3. Februar 2024, gegen 21 Uhr. Ein Notruf geht bei der Polizei ein: „Da wollen Leute einbrechen oder so.“ Der Anrufer ist der Angeklagte selbst. Er meldet einen angeblichen Einbruch in einem Supermarkt im Landkreis. Sofort rücken mehrere Streifenwagen aus, sogar aus dem benachbarten Hessen. Doch vor Ort: keine Spur von Einbrechern.

    Später erklärt der junge Mann: „Ich habe drei Männer mit Taschen in den Supermarkt rein oder herauslaufen sehen, das weiß ich nicht mehr genau.“ Zu diesem Zeitpunkt stand er unter dem Einfluss von Amphetamin und Cannabis. Er berichtet, eine Psychose gehabt zu haben – eine verzerrte Wahrnehmung der Realität. „Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber Stimmen haben es mir befohlen“, gesteht er. Diese hätten ihn gezwungen, die Polizei zu rufen – andernfalls würde er selbst für den Einbruch verantwortlich gemacht werden.

    Zwischen Realität und Wahn

    Ein Polizeibeamter, der beim Einsatz dabei war, schildert die Situation: Schon nach kurzer Zeit wird klar, dass keine echte Bedrohung besteht. Der Angeklagte hatte sich das Handy seines 52-jährigen Nachbarn geliehen, um den Notruf abzusetzen. Der Nachbar beschreibt ihn als ängstlich und sichtlich gestresst. Doch der junge Mann wartet nicht auf die Polizei, sondern geht zum Haus seines Cousins. Dort trifft ihn die Polizei wenig später an.

    „Vogelwildes Zeug hat er erzählt. Ich bin gegangen und habe schon wieder alles vergessen“, berichtet der Polizist. Der Angeklagte soll außerdem von fremden Personen, die am Ofen des Cousins hantieren, geredet haben. 

    Seit 13 im Kreislauf gefangen

    Der Weg in die Abhängigkeit beginnt früh: Mit 13 Jahren probiert er erstmals Cannabis, zwei Jahre später folgen halluzinogene Kräuter und schließlich LSD. 2021 verlässt er die Fachoberschule. 2023 startet er eine Ausbildung. Doch nichts hält lange. Immer wieder kündigt er. „Manchmal habe ich mich nicht mit dem Chef oder den Kollegen verstanden, aber oftmals lag es an den Drogen“, erklärt der 22-Jährige.

    Im August 2023 sucht er für eine Weile Hilfe bei der Suchtberatung. Doch die Unterstützung hält nicht lange – schon wenige Monate später wählt er den besagten Notruf.

    Wegen der Stimmen im Kopf wird er für einige Wochen stationär behandelt, bekommt Medikamente gegen Schizophrenie. Auf die Nachfrage, ob er diese noch nimmt, antwortet der Angeklagte leise: „Aktuell nicht mehr, weil die Psychose abgenommen hat.“ Wie sich die Medikamente mit den Drogen vertragen, will die Richterin wissen. Der Angeklagte schweigt.

    Festnahme in Fulda

    Drei Monate nach dem missbräuchlichen Wählen des Notrufs, im Mai 2024, wird er mit 13,7 Gramm Amphetamin erwischt. „Im Schlosspark in Fulda hält sich so Klientel oft auf“, sagt der Polizist, der ihn damals festnahm.

    Die Richterin macht deutlich: Der bloße Besitz von Betäubungsmitteln ist strafbar. „Es handelt sich auch um deutlich mehr als eine Konsumeinheit.“ Der Angeklagte gesteht, verweist aber auf seine damalige Abhängigkeit. Sein Verteidiger plädiert für eine Geldstrafe – schließlich sei sein Mandant „extrem abhängig und unter Druck“ gewesen.

    Dilemma: Therapie oder Ausbildung

    Nach langer Wartezeit bekommt der Industriehelfer eine sechsmonatige Therapie bewilligt – doch er will sie nicht antreten. Die Richterin, die ihn bereits aus anderen Verfahren kennt, ist sichtlich enttäuscht.

    „Ich werde ab August eine Ausbildung als Kaufmann starten, deswegen kann ich die Therapie nicht antreten, das würde kollidieren“, sagt der 22-Jährige. Ein Mann aus dem Publikum meldet sich zu Wort: der Bewährungshelfer. „Ich schätze die Motivation, noch einmal eine Ausbildung zu versuchen, als sehr löblich ein. Aber ich bezweifle, dass er das schafft. Noch vor zwei Wochen hat mir der Angeklagte gesagt, dass sein aktueller Drogentest positiv ausfallen würde“, äußert er skeptisch.

    Ein Raunen geht durch den Saal. Zu Beginn der Verhandlung hatte der Angeklagte noch behauptet, seit zwei Monaten keine Drogen mehr zu nehmen. Die Nachfrage der Richterin, ob ein Test gemacht wurde, verneint der Bewährungshelfer. „Ich wollte die Staatskasse nicht unnötig belasten.“

    Die Richterin schaut den Angeklagten eindringlich an: „Warum sollte dann genau jetzt die Ausbildung funktionieren, wenn Sie keine Therapie machen und immer weiter Drogen konsumieren?“ Die zögerliche Antwort, er habe seinen Konsum aktuell besser im Griff, überzeugt sie nicht.

    Späte Einsicht

    Die Staatsanwältin fordert fünf Monate Haft für den Drogenbesitz und verweist auf die Vorstrafen: Körperverletzung, Beleidigung, eine Jugendstrafe und eine laufende Bewährung.

    Das letzte Wort hat der Angeklagte. Es wird still im Saal. „Ich werde vielleicht doch die Therapie in Betracht ziehen“, sagt er – sichtlich spontan. Ob es die scharfe Kritik, Selbsterkenntnis oder der Druck im Saal ist, der ihn umstimmt, bleibt offen. Die Richterin und die beiden Schöffen ziehen sich nach diesem Statement zurück.

    Vier Monate Haft

    Die Richterin zeigt Mitgefühl, bleibt aber streng: Vier Monate Haft für den Drogenbesitz im Mai – denn dieser geschah bewusst, ohne Anzeichen einer Psychose.

    Bei der Anklage des Missbrauchs des Notrufs folgt sie der Einschätzung der psychologischen Sachverständigen und erklärt den Angeklagten für schuldunfähig. Das Gutachten bescheinigt eine krankhafte seelische Störung. „Dazu kamen akustische und optische Halluzinationen, die durch die Drogen ausgelöst wurden“, erklärte die Sachverständige mit ruhiger Stimme. In diesem Zustand seien kritisches Denken und Impulskontrolle außer Kraft gesetzt.

    Die Entscheidung gegen die Therapie zugunsten der Ausbildung sieht die Richterin kritisch: „Eine Ausbildung bedeutet Stress, den sind Sie einfach nicht gewöhnt.“ Am Ende betont sie noch einmal, sie glaube nicht daran, dass der Angeklagte ein straffreies Leben führen kann, wenn er die Therapie nicht macht.

    Ein bedrückendes Ende der Verhandlung. „Die Stimmen sind weg. Die Medikamente helfen“, sagt der Angeklagte. Ob er seine Haft aber wirklich „frei“ antreten kann, wird die Zukunft zeigen.

    Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, weil beide Prozessparteien noch Berufung oder Revision beantragen können.

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