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Würzburg: "Ich wurde vergewaltigt": 3 Frauen aus Unterfranken erheben ihre Stimmen gegen sexuelle Gewalt

Würzburg

"Ich wurde vergewaltigt": 3 Frauen aus Unterfranken erheben ihre Stimmen gegen sexuelle Gewalt

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    Wer Opfer einer Sexualstraftat wurde, dem sieht man das nicht an. Aber sie verändert einen Menschen in seinem ganzen Wesen, oft lebenslang.
    Wer Opfer einer Sexualstraftat wurde, dem sieht man das nicht an. Aber sie verändert einen Menschen in seinem ganzen Wesen, oft lebenslang. Foto: Illustration: Ivana Biscan

    Triggerwarnung: In diesem Text geht es um Vergewaltigung, sexuellen Missbrauch und Gewalt gegen Frauen.

    Jeden Tag werden in Deutschland laut Bundeskriminalamt mehr als 140 Frauen und Mädchen Opfer einer Sexualstraftat. In Bayern waren es der Polizeilichen Kriminalstatistik zufolge im vergangenen Jahr 6252. In Unterfranken 589. Mehr als 100 von ihnen wurden vergewaltigt. Oft kennen die Opfer ihre Täter.

    Drei Frauen aus der Region geben diesen Zahlen ihre Geschichten. Ihre Namen veröffentlichen wir nicht. Jede von ihnen könnte Ihre Tochter sein. Ihre Schwester. Ihre Partnerin. Ihre Freundin. Ihre Nachbarin. Oder Ihre Kollegin. 

    Die drei Frauen erheben ihre Stimmen, weil sie möchten, dass die Gesellschaft hinsieht. Weil sie anderen Opfern Mut machen wollen, sich Hilfe zu suchen. Und weil sie hoffen, sich ihre Leben zurückzuerobern, indem sie die reinen Opferrollen ablegen und die Scham auf die Seite der Täter schieben.

    Die Gespräche haben die drei Frauen in den Räumen von Wildwasser Würzburg, einem Verein gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen, mit dieser Redaktion geführt. In allen drei Geschichten wird deutlich: So verletzt diese Frauen sind, so stark sind sie auch. 

    1. Mutter, 34 Jahre: "Ich wurde in meinem Leben mehr Stunden vergewaltigt und missbraucht, als ich jetzt Therapie machen darf"

    Eine Frau erhebt die Stimme: Sie wurde neun Jahre lang von einem Bekannten aus ihrem Dorf und zig Mittätern vergewaltigt, missbraucht und gefoltert.
    Eine Frau erhebt die Stimme: Sie wurde neun Jahre lang von einem Bekannten aus ihrem Dorf und zig Mittätern vergewaltigt, missbraucht und gefoltert. Foto: Thomas Obermeier

    "Meine erste Vergewaltigung war an meinem 12. Geburtstag. Die letzte mit 21. Der Haupttäter war ein paar Jahre älter als ich und kam aus dem nahen Umfeld in meinem Dorf. 50 bis 60 Mittäter waren im Laufe der Jahre involviert. Ich wurde vergewaltigt, missbraucht und gefoltert. Der Haupttäter sagte zu mir: 'Jeder Mensch hat eine Aufgabe auf dieser Welt. Das ist deine.'  

    Ich war als Kind stark auf der Suche nach Liebe, nach Geborgenheit, nach Zugehörigkeit. Diese Bedürfnisse hat der Täter erkannt und bedient. Er hat mir Sicherheit vorgespielt und sie dann zerstört, immer wieder. Er hat mich emotional manipuliert und verstrickt. Und er hat mir gedroht, Filmaufnahmen von mir zu zeigen, wenn ich darüber spreche, was passiert. 

    Mit 13 habe ich mich einer Schulkameradin anvertraut, weil ich die Gewalt nicht mehr ausgehalten habe. Sie ging zu unserer Vertrauenslehrerin, die schaltete meine Eltern und die Polizei ein. Ich wurde von zwei Polizeibeamten befragt, während der Täter zeitgleich auf derselben Wache war. Da brachte ich kein Wort raus. Ich weiß noch genau, wie die Polizeibeamten zu meinen Eltern sagten: 'Wie gedacht: Das war so ein Aufmerksamkeitsding.' Meine Eltern haben das Thema bis heute totgeschwiegen.

    Der Täter sagte damals: 'Siehst du, dir glaubt keiner.' Es war ein Freibrief für ihn, acht Jahre weiterzumachen. Dann hörte es plötzlich auf. Vermutlich, weil er ins Gefängnis kam. Später erfuhr ich, dass er wegen anderer Delikte und Vergehen an anderen Frauen zu 15 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt wurde. Ich habe mich nach dem Tag bei der Polizei nie wieder jemandem anvertraut.

    "Für meine Kinder und andere Frauen möchte ich der Mensch sein, den ich damals gebraucht hätte."

    Die Mutter über ihr Leben heute

    Meine Überlebensstrategie war Verdrängung. Bis ich Panikattacken bekam und irgendwann das Haus nicht mehr verlassen konnte. Erst in einer zweiten Psychotherapie kam alles hoch. Erst dort wurde mir bewusst, was mir passiert war. 

    Bis heute kämpfe ich mit Auswirkungen, die keiner sieht, wie Flashbacks, Albträumen, Unsicherheit und Misstrauen. Die Traumatherapie hat mir geholfen, Verantwortung, Schuld und Scham abzugeben. Mich nicht mehr als wertlos abzulehnen. Und zu erkennen, dass ich keine Wahl hatte, sondern dass ich hilflos ausgeliefert war.

    Ich hatte bisher circa 300 Therapiestunden, aktuell genehmigt die Krankenkasse keine weiteren mehr, obwohl ich sie dringend brauche. Ich finde das nicht fair: Ich wurde in meinem Leben mehr Stunden vergewaltigt und missbraucht, als ich jetzt Therapie machen darf.

    Heute habe ich eine Familie. Ich wünsche mir, dass noch ein Leben mit mehr Freude und Leichtigkeit auf mich wartet. Für meine Kinder und andere Frauen möchte ich der Mensch sein, den ich damals gebraucht hätte."

    2. Ärztin, 33 Jahre: "Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft anerkennt und versteht, wie viel Kraft es kostet, solche Wunden zu heilen"

    Eine Frau erhebt die Stimme: Sie wurde von einem Kollegen vergewaltigt und versucht nach einer Traumatherapie, wieder in ihren Beruf zurückzufinden.
    Eine Frau erhebt die Stimme: Sie wurde von einem Kollegen vergewaltigt und versucht nach einer Traumatherapie, wieder in ihren Beruf zurückzufinden. Foto: Thomas Obermeier

    "Ich habe viel Anerkennung dafür bekommen, dass ich ein Medizinstudium geschafft habe. Viel mehr Stärke kostet es mich, nach einer Vergewaltigung wieder in mein Leben und meinen Beruf zurückzufinden. 

    Im Herbst 2022 war ein früherer Studienkollege zu Besuch in meiner Stadt. Wir gingen abends essen, dabei floss viel Alkohol. Ziemlich betrunken ging ich mit ihm ins Hotel. Dort wollte ich Sex mit ihm, er wollte das nicht. Wir haben uns schlafen gelegt.

    Als ich das erste Mal aufgewacht bin, hatte ich Schmerzen am Anus und das Gefühl, als wäre dort ein prall elastischer Gegenstand. Ich wollte gehen, aber es war mitten in der Nacht. Er hat mich überredet, zu bleiben. Als ich das nächste Mal aufgewacht bin, habe ich seinen Penis in meiner Vagina gespürt.

    Mein erster Gedanke: Ich werde vergewaltigt. Ich habe nach hinten gegriffen, den Penis weggedrückt und dabei gespürt, dass er kein Kondom trägt. Plötzlich hatte ich panische Angst, dass ich schwanger sein oder mich mit einer Erkrankung infiziert haben könnte.

    "Mich der Therapie und den Vorurteilen gegenüber Arbeitslosen zu stellen - das war meine bisher größte Leistung."

    Die Ärztin über die nötige Kraft

    Meine Gedanken überschlugen sich: Hab' ich wirklich geschlafen, als er angefangen hat? Dann hab' ich dem Sex nicht zugestimmt. - Oder war ich noch so betrunken, dass ich mich nicht erinnere, wie es losging? Aber dann war ich auch nicht einwilligungsfähig. - Er wollte doch am Abend nicht mit mir schlafen. Und er ist doch Arzt und hat eine Moral, sowas würde der doch nicht machen. - Aber sein Penis war in mir, als ich aufgewacht bin. - Scheiße, ich wurde vergewaltigt! 

    Lange habe ich an meinen Erinnerungsfetzen gezweifelt und mir die Schuld gegeben, dass ich mit ins Hotel gegangen bin. Daher ging ich auch nicht direkt zur Polizei. Ich zog mich zurück, hatte Panikattacken, Flashbacks, Schlafstörungen - Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), das wusste ich als Ärztin. Erst da habe ich mir Hilfe gesucht und Anzeige erstattet. Das Verfahren wurde eingestellt, wegen zu geringer Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung. 

    Dank der Traumatherapie EMDR bin ich heute so weit wiederhergestellt, dass ich Bewerbungen schreibe. Ständig werde ich gefragt, warum zur Hölle ich nicht arbeite. Erklären Sie das mal in einer Gesellschaft, in der man sich über den Job definiert. In der es nicht akzeptiert ist, im Smalltalk über Schicksalsschläge zu sprechen. In der sexualisierte Gewalt und Trauma Tabus sind.

    Ich wollte in dieser Situation nicht sein. Ich hatte Pläne für meine Facharztausbildung. Ich wollte viel schneller wieder ich sein. Aber es war die verantwortungsvollste Entscheidung meines Lebens, während der PTBS nicht zu arbeiten. Mich der Therapie und den Vorurteilen gegenüber Arbeitslosen zu stellen - das war meine bisher größte Leistung. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft anerkennt und versteht, wie viel Kraft es kostet, solche Wunden zu heilen."

    3. Studentin, 21 Jahre: "Mein Ex-Freund hat mir das Entdecken meiner Sexualität und viel von meiner Jugend genommen"

    Eine Frau erhebt die Stimme: Sie wurde in der Beziehung über drei Jahre von ihrem ersten Freund vergewaltigt und missbraucht.
    Eine Frau erhebt die Stimme: Sie wurde in der Beziehung über drei Jahre von ihrem ersten Freund vergewaltigt und missbraucht. Foto: Thomas Obermeier

    "Ich habe viel zu lange allein damit gelebt. Ich war viel zu lange stumm. Aber langsam finde ich meine Stimme wieder - und die will ich auch einsetzen. Für mich, um mir selbst zu zeigen: Ich bin nicht ohnmächtig. Und für andere Betroffene, um ihnen zu sagen: Ihr seid nicht allein. So viele Frauen erleben jeden Tag das Gleiche wie ich.

    Ich wurde über drei Jahre von meinem Ex-Freund sexuell missbraucht. Er war mein erster Freund. Als es anfing, war ich 16, er 14. Er zwang mich, mich nackt vor ihm auszuziehen. Er wollte mehrmals täglich Sex. Wenn ich Nein gesagt habe, hat er es ignoriert. Wenn ich mich körperlich gewehrt habe, hat er mich festgehalten und gewürgt. Wenn ich währenddessen geweint habe, weil es weh tat, hat er nicht aufgehört.

    Damals war mir nicht bewusst, dass er mich missbraucht und vergewaltigt. Seine Gewalt war Normalität für mich, ich kannte ja nichts anderes. Trotz allem war ich auf eine Weise verliebt in ihn. Und ich war emotional abhängig von ihm, weil die Beziehung zu meinen Eltern zu der Zeit brüchig war.  

    Getrennt habe ich mich erst, als ich wegen einer Anorexie und Depression in einer Klinik war. Dort kam ich mit Trauma in Berührung. Erst wollte ich nicht wahrhaben, dass auch mir etwas Traumatisches passiert ist. Ich hatte Angst, ob mir überhaupt zusteht, darüber zu sprechen. Sorge, dass ich übertreibe. Zweifel an meiner Wahrheit. Die plötzliche Einsicht, dass die letzten drei Jahre meines Lebens schlimme Jahre waren, hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen und habe erst allmählich gelernt, das Erlebte zu akzeptieren.

    "Langsam finde ich meine Stimme wieder - und die will ich auch einsetzen."

    Die Studentin über den Sieg über die Ohnmacht

    Nach der Klinik habe ich Anzeige gegen meinen Ex-Freund erstattet. Seit einem dreiviertel Jahr warte ich auf ein Ermittlungsergebnis - und ob die Staatsaltanwaltschaft Anklage erhebt. Diese Ungewissheit belastet mich sehr. 

    Der Missbrauch beeinträchtigt noch immer meinen Alltag. Ich schaffe mein Studium, bin aber sehr unsicher im Kontakt mit anderen Menschen. Banalitäten bringen mich ins Wanken. Intimität ist schwierig. Ich bin meinem neuen Partner sehr dankbar, dass er mir ein riesengroßer Halt ist. Auch meine Familie unterstützt mich sehr.

    Großes Glück ist, dass es Wildwasser Würzburg gibt. Dort habe ich einen Raum gefunden, in dem ich aufgefangen werde. Auch Bücher helfen mir bei der Verarbeitung: Wenn Menschen die Worte finden, die mir bisher gefehlt haben, fühle ich mich verstanden.  

    Mein Ex-Freund hat mir das Entdecken meiner Sexualität und viel von meiner Jugend genommen. Und er hat mir die Sicherheit in meinem Zuhause geraubt. Den Rest meines Lebens will ich mir zurückholen. Ich fange an, indem ich darüber spreche, was er mir angetan hat."  

    Hier finden Sie Hilfe!Wildwasser Würzburg berät Frauen und Mädchen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden. Telefonische Beratung Montag bis Donnerstag 13-14 Uhr, Dienstag auch 16-18 Uhr, Donnerstag auch 9-11 Uhr. Offene Beratung vor Ort mittwochs 14-16 Uhr, in der Theresienstraße 6-8 in Würzburg. Telefon: (0931) 13 287, E-Mail: info@wildwasserwuerzburg.de. Infos: wildwasserwuerzburg.de.Das Krisennetzwerk Unterfranken des Bezirks hilft bei psychischen Krisen und psychiatrischen Notfällen jeder Art, täglich rund um die Uhr unter 0800 / 655 3000. Infos: krisendienste.bayernDas Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" des Bundesamtes für Familie ist täglich von 0-24 Uhr erreichbar unter 116 016. Infos: hilfetelefon.de. ng

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