Wie immer hat er die Neuigkeiten über „Schneewittchen“ aus der Zeitung erfahren, sagt Peter Wittstadt. So auch am Donnerstagmorgen. Und erstmals auch auf anderen Wegen. „In der Nacht habe ich geträumt, dass es gut ausgeht“, erzählt er lachend. Der Künstler ist erleichtert. Groß feiern will er aber nicht mit seiner Frau Johanna, dass das wochenlange Gerangel vorbei ist, dass seine Plastik nun nicht nur aus Gips geformt den Hof in Laudenbach (Lkr. Main-Spessart) schmücken, sondern in Bronze gegossen künftig vor der Lohrer Stadthalle stehen wird. Ein guter Ort, findet Peter Wittstadt. Die Schlichtheit der Halle würde einen guten Gegensatz bilden zur Lebendigkeit seines Schneewittchens.
Es war eine knappe Entscheidung des Lohrer Stadtrates, eine, die der Maler und Bildhauer eigentlich so nicht wollte. Denn längst habe ja eine Fachjury sich einstimmig für sein Werk entschieden: für seine künstlerische Umsetzung der Grimm'schen Märchenfigur.
Wer auf das Zuhause der Wittstadts in Laudenbach bei Karlstadt zugeht, der wird schon einige Meter vor dem Holztor von ihr begrüßt. Keck schaut sie aufgrund ihrer Größe über die Mauer hinweg. Ihre Frisur, abstehende Zöpfe so dick wie Äste, fällt auf. Aus der Nähe wird sie zum Baum. Sicher, jeder Besucher wird etwas anderes in der Plastik sehen. Und viele werden von Schneewittchen eine andere Vorstellung haben. Zu sehr ist die Figur von süßlichen Buchillustrationen oder der kitschigen Disney-Filmversion geprägt: schwarzes langes Haar, rosa Diadem, blau-gelbes Kleid mit Puffärmeln und hochstehendem Kragen. Doch genau davon wollte Peter Wittstadt weg. Geschmacksfragen oder ein „Schönmachen“ hätten mit Kunst nichts zu tun, sagt er. „Märchen sollten in ihrer Fantasie bleiben, das ist ihre Qualität. Ich versuche, eine gute Plastik zu machen, die in ihrer Qualität den Märchen gegenübersteht.“ Oder anders gesagt: „Märchen erzählen, bei ihnen ist der Text wichtig. Eine Plastik benötigt dagegen Raum und Volumen. Das sind meine Mittel.“
Peter Wittstadts wichtigstes Kriterium ist: „Die Plastik muss stimmig sein.“ Und für den gelernten Steinmetz, der an der Akademie der bildenden Künste in Nürnberg studiert hat, ist sie stimmig. Nicht aufgrund ihres knorrigen baumähnlichen Äußeren. „Das sehe ich auch.“ Für ihn steckt in der Figur vielmehr „Vase und Blume“ – vor allem im kleinen Modell, mit dem er den Kunstpreis der Stadt Lohr gewonnen hat. Im langen intensiven Arbeitsprozess habe sich die Plastik dann verändert. „Die Aussage der kleinen Plastik konnte nicht in die Größe transportiert werden.“ Denn eine Figur sei nur formal zu lösen“, sagt er. Und: „Was ich suche, ist die sinnliche Thematik, es müssen Gefühle rein.“ Wer zu sehr mit dem Kopf rangehe, „macht alles tot“. Um in ein Kunstwerk „innere Energie“ hineinzutragen, würde er viel Zeit benötigen. Ein gemütlicher Arbeiter sei er aber nicht.
Wittstadt ist sich durchaus bewusst, dass nicht jeder seine Plastik versteht, mit ihr etwas anfangen kann. Und wenn sein Schneewittchen nicht bundesweit für so viel Wirbel gesorgt hätte, dann müsste er auch nicht so viele Worte machen. Seit der Streit vor allem um die Kosten entstanden ist, standen zig Journalisten im heimischen Hof. Er wurde gefilmt, interviewt – und nicht nur per E-Mail beschimpft. „So heftige Reaktionen habe ich noch nie erlebt.“ Dennoch haben ihn die verbalen Angriffe weniger belastet als seine Frau Johanna. Der 54-Jährige ist aufgrund seiner langen Erfahrung als Künstler selbstbewusst. „Ich weiß, was ich mache, kenne meinen erarbeiteten Weg.“ Provozieren wollte er jedenfalls niemanden, auch nicht arrogant wirken, sagt er, aber sich auch nicht verbiegen. Als er in der Ausschreibung von einem abstrahierenden Kunstwerk las, war er sich sicher: „Da mache ich mit, da passe ich gut hin.“
Dass Kunst provozieren kann, das hat zum Beispiel auch „Malerfürst“ Markus Lüpertz mit seiner Plastik „Aphrodite“ vor 14 Jahren in Augsburg erlebt. Sie sollte auf dem Ulrichsplatz stehen. Doch dazu kam es nicht, denn für viele Augsburger hatte seine „Aphrodite“ nichts gemein mit der Göttin der Liebe. Womöglich wollte Lüpertz mit seiner knubbeligen Figur nur zeigen, dass jede Frau schön ist. So wie für Peter Wittstadt „jede weibliche Figur“ Schneewittchen sein kann. Jedenfalls haben Augsburg und Lohr jetzt eines gemeinsam: einen Kunstskandal.
Positiver Effekt des Ganzen ist, dass der Laudenbacher Künstler nun bekannt ist wie der viel zitierte bunte Hund. Wie die Stadt Lohr, die durch Peter Wittstadts Plastik plötzlich im Rampenlicht steht.
Wie Schneewittchen Lohrerin wurde
1985: Karlheinz Bartels, Werner Loibl und Helmuth Walch – ein Apotheker, ein Museumsleiter und ein Schuhmacher – kommen auf die Idee, ein Märchen nach Lohr zu verorten – und finden im Spessart jede Menge historischer Anhaltspunkte, die sie zu dem Schluss kommen lassen: Wenn es Schneewittchen je gegeben hat, muss sie eine Lohrerin gewesen sein. 1986: Der promovierte Pharmaziehistoriker Bartels veröffentlicht den Beitrag „War Schneewittchen eine Lohrerin? Zur Fabulologie des Spessarts“ in „Schönere Heimat“ des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege. Die Reaktion: Es rauscht im Blätterwald. Lohr wird Schneewittchenstadt, die Figur fürs Marketing ist entdeckt. Den Titel „Fabulologe“ lässt sich Bartels gar schützen. 2013: Peter Wittstadts Entwurf wird von einer sechsköpfigen Jury einstimmig zum Sieger des Schneewittchen-Kunstwettbewerbs gekürt. rp