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WÜRZBURG: Mehr Depressive durch Alltagsstress

WÜRZBURG

Mehr Depressive durch Alltagsstress

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    Die Zahl der Menschen, die in Bayern psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen müssen, steigt und steigt. Pro Jahr lassen sich derzeit im Freistaat rund 580 000 Menschen psychiatrisch behandeln; etwa 388 000 von ihnen ambulant und fast 191 000 stationär. Diese Zahlen haben fürs Jahr 2012 auf Anfrage das Statistische Landesamt und der Berufsverband Deutscher Nervenärzte bestätigt.

    Auffällig ist die starke Zunahme schwerer psychischer Erkrankungen, die in Bayern in den letzten Jahren um fast 30 Prozent gestiegen. Während 2004 laut Statistischem Landesamt noch 148 000 Menschen stationär in der Psychiatrie behandelt wurden, lag deren Zahl im Jahr 2012 bereits bei rund 191 000. Auch die Art der Erkrankungen hat sich sehr verändert. Während früher Suchtkranke sowie Menschen mit Psychosen und Persönlichkeitsstörungen einen Großteil der stationären Psychiatrie-Patienten ausmachten, stellen – zumindest in der Erwachsenenpsychiatrie der Uniklinik Würzburg – mittlerweile Menschen mit Depressionen zwei Drittel der Erkrankten.

    Die starke Zunahme bei schweren depressiven Erkrankungen ist laut Professor Jürgen Deckert, dem Leiter der Erwachsenenpsychiatrie der Uniklinik Würzburg, einerseits darauf zurückzuführen, dass Depressionen heutzutage besser als im letzten Jahrtausend diagnostiziert würden. Ursächlich für die auffällige Zunahme von schweren Depressionen sei aber auch der gesellschaftliche Wandel, den immer mehr Menschen nicht mitvollziehen könnten. „Durch unsere globalisierte, digitalisierte Welt wird der Alltag wird immer schneller. Damit wird den Menschen ein immer höheres Tempo abverlangt“, sagt Deckert. Arbeitgeber verknappten der Profitabilität wegen ihr Personal, ließen dieses „auf Kante“ arbeiten, verlangten täglich Maximalleistung. „Dieses Tempo können immer mehr Menschen nicht mithalten, sie stehen so unter Dauerstress, dass sie Depressionen entwickeln“, sagt Deckert. Zunehmend handle es sich um junge oder jüngere Menschen aus der Mitte der Gesellschaft.

    Deckert hält es für problematisch, dass der klinischen Psychiatrie mit ihren begrenzten Ressourcen in immer stärkerem Maß die Aufgabe zufällt, Fehlentwicklungen der Gesellschaft zu kompensieren. „Wir brauchen eine neue Psychiatrie-Enquete, in der die Entwicklungen der Psychiatrie in Deutschland untersucht und analysiert werden“, fordert Deckert.

    Der letzte umfangreiche Bericht über die Lage der Psychiatrie im Auftrag des Bundestags wurde 1975 erstellt, vor fast vierzig Jahren. Aufgrund des damaligen Berichts sei die ambulante Versorgung stark ausgebaut und die stationäre Versorgung zurückgefahren worden, so Deckert. Dem Leiter der Erwachsenen-Psychiatrie der Uniklinik Würzburg fehlt nun ein neuer Bericht, der nicht nur die stetige Steigerung der Patientenzahlen und Berentungen reflektiert, sondern auch über Möglichkeiten der Prävention berichtet und die Strukturen und Finanzierungsmodalitäten der Psychiatrien bewertet.

    In diesem Zusammenhang kritisiert Deckert das 2009 vom Bundestag beschlossene Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Krankenhäuser, das 2015 eingeführt werden soll. Wie zwischenzeitlich mehr als 10 000 andere Unterzeichner einer entsprechenden Bundestagspetition fordert der Würzburger Psychiater, die Einführung des neuen Systems mindestens bis 2017 aufzuschieben. Damit bleibe Zeit zum Nachbessern. Deckert zufolge erhöht das neue Entgeltsystem „den Druck auf Kliniken, Patienten früher zu entlassen“. Dies sei vor allem bei depressiven Patienten gefährlich.

    Das Bundesgesundheitsministerium will offenbar bei der Einführung des neuen Entgeltsystems trotz der Kritik aus den Kliniken bei dem Zeitplan bleiben, den die vorige Koalition gesetzt hat. Dies geht aus der Antwort des Ministeriums auf die Anfrage dieser Zeitung hervor.

    Psychiatrie: Höhere Fallzahlen und längere Wartezeiten

    Psychiatriepatienten aus der Region Würzburg müssen aufgrund steigender Fallzahlen immer länger auf einen Therapieplatz warten. „Von 2004 bis 2014 hat sich die Wartezeit verdoppelt“, schätzt der Leiter der Erwachsenenpsychiatrie der Uniklinik Würzburg, Professor Jürgen Deckert. Stationäre Patienten, die nicht ausdrücklich „Notfälle“ seien, müssten mit mindestens vier Wochen Wartezeit rechnen. Dramatischer sei die Lage in der stationären Psychotherapieabteilung der Uni Würzburg, in der zum Beispiel Menschen mit Essstörungen behandelt werden. Auf einen Therapieplatz warten Essgestörte bis zu sechs Monaten.

    Auch in der ambulanten Versorgung sind die Fallzahlen gestiegen; auch dort warten Patienten länger. „Bei den Psychotherapeuten sind Wartezeiten von über drei Monaten üblich“, sagt der Kitzinger Neurologe Dr. Gunther Carl, Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte in Bayern. Psychotherapeuten behandelten ohnehin keine akuten Fälle; diese kämen, oft durch Überweisung des Hausarztes, zu den Psychiatern. „Notfälle werden, wenn möglich, vorgezogen. Ansonsten sind beim Psychiater Wartezeiten von vier bis sechs Wochen die Regel“, sagt der Kitzinger Neurologe Carl.

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