Da gibt es Brombeersträucher, die hoch aufragen. Und Brombeerpflanzen, die am Boden dahinkriechen. Es gibt Brombeer-Monster mit daumendicken Trieben und mächtigen Stacheln. Es gibt Brombeeren mit winzig kleinen Borsten am zarten Stängel. Es gibt Brombeeren mit haarigen Blättern, mit samtigen Blättern, mit stacheligen Blättern. Brombeeren mit fast runden Blättern, mit eiförmigen Blättern, mit herzförmigen Blättern. Brombeeren mit gezähnten Blättern, mit vielen Zacken, mit wenigen Zacken, ungleich doppelgesägt oder seitlich lappig eingeschlitzt. Brombeeren mit stielrunden Blütenästen oder kantigen. Mit kahlen Blattstielen, behaarten Blattstielen, filzigen Blattstielen.
„Eine haarige Gattung“
Blattstielen mit Drüsenborsten und ohne. Brombeeren mit weißen Blüten, mit rötlichen Blüten, mit roten. Brombeeren mit Blüten in aufrechten Trauben, in Doldentrauben oder Rispen. Brombeeren mit ovalen Kronblättern, abstehend . . . .
Die Liste an Unterscheidungsmerkmalen scheint gar nicht mehr aufzuhören. Und wer die Vielgestaltigkeit der Brombeere erfassen und beschreiben mag, braucht viele, viele Worte. Lenz Meierott sagt nur: „Es ist eine haarige, eine diffizile Gattung.“
Er sagt es erfreut. An diesem Wochenende hat Meierott, pensionierter Musikwissenschaftler aus Würzburg und leidenschaftliche Botaniker, wieder Brombeerforscher aus Deutschland, Österreich, Polen, Frankreich und Tschechien zusammengerufen und eingeladen nach Nassach in den Hassbergen, seinem zweiten Wohnsitz. Meierott ist hervorragender Kenner der Flora Frankens, hat umfangreiche Kartierungen über alle Gefäßpflanzenarten der Region erstellt, die Flora der Haßberge und des Grabfelds geschrieben und mehrere Kleinarten der Gattung Mehlbeeren beschrieben. Und eben auch von Rubus– den Brombeeren.
„Wenn man sich mit der Haßberger-Flora beschäftigt, dann muss man sich auch mit Rubus beschäftigen“, sagt der 75-Jährige. Mit dieser äußerlich stacheligen, botanisch so haarigen und diffizilen Gattung aus der Familie der Rosengewächse. Es wachsen Hunderte von Arten von Brombeeren in Mitteleuropa. Die Sache ist kompliziert. Aber es gibt Spezialisten.
Seit 25 Jahren tagt das Rubus-Konzil
Vor 25 Jahren hat Lenz Meierott „den“ deutschen Brombeer-Forscher, den Vegetationskundler Professor Heinrich E. Weber aus Bramsche, in die Haßberge gerufen. Und ein gutes Dutzend weitere Brombeerforscher aus der ganzen Republik eingeladen in sein Haus zum ersten „Rubus-Konzil“. Die Botaniker stiefelten durch die Gegend, steckten am Waldrand ihre Nasen ins Gestrüpp, nahmen Blüten und Stängel unter die Lupe. Und verglichen und diskutierten mitgebrachte Herbar-Belege: gepresste und trocknete Blüten, Stängel, Blätter, sorgsam auf große Papierbögen geklebt.
Der Austausch war fruchtbar, das Treffen ertragreich – und so gab es nach dem ersten Rubus-Konzil 1992 ein zweites im Jahr darauf, dann ein drittes, ein viertes. „Heinrich E. Weber hat in uns die Begeisterung und Liebe zu Rubus eingepflanzt“, sagt Lenz Meierott. Sie waren angestachelt, alle zusammen. Und so treffen sich seit einem Vierteljahrhundert die Batologen, die Himbeer- und Brombeerwissenschaftler, so genannt nach dem griechischen „bátos“ für Strauch – ohne Unterbrechung zum alljährlichen Rubus-Konzil. Mal in Südbayern, mal in Schleswig-Holstein, in Thüringen, auch schon mal in Niederösterreich. Immer zur besten Sammelzeit im August.
Mit der Rosenschere im Gestrüpp unterwegs
Zum 25-Jährigen hat Lenz Meierott die Kollegen mit der exotischen Leidenschaft unter Federführung der Bayerischen Botanischen Gesellschaft wieder nach Nassach eingeladen, wo alles begann. Und seit Donnerstag sind die Batologen nun tagsüber mit der Rosenschere – Fachbegriff „Batotom“ – in den Haßbergen im Gelände unterwegs, schneiden Schösslinge und Blätter ab, sammeln Blütenstände. Und abends vergleichen und pressen sie die Funde.
Unter Botanikern gelten Brombeeren als tückische, berüchtigte Gattung. Sie sind so schwierig zu bestimmen wie Habichtskräuter, wie Frauenmäntel und fast so schwierig wie Löwenzähne, die als Gruppe noch notorischer sind und von denen es tatsächlich noch ein paar hundert oder tausend Arten mehr gibt. „Ich bin gespannt, ob wir noch was Neues finden“, sagt Lenz Meierott, nach dem inzwischen auch eine Brombeere benannt ist: Rubus meierottii.
120 Brombeeren-Arten allein in Unterfranken
In den Haßbergen wachsen nachgewiesen rund 80 Brombeer-Arten, in Unterfranken wohl so 120 Arten, in Bayern sind rund 160 Arten heimisch, in ganz Deutschland kommen etwa 400 Brombeer-Arten vor. Insgesamt weltweit? „Mehrere tausend“, sagt Batologe Meierott. Einige sind weit verbreitet und häufig in Mitteleuropa. Andere wachsen überhaupt nur an einer Stelle. Lenz Meierott hat einmal zwischen Köslau und Bühl am Straßenrand eine Brombeere gefunden, die er nicht bestimmen konnte. Er bat den obersten aller Batologen um Hilfe, und Heinrich E. Weber konnte es kaum glauben: Rubus arduennensis, die Ardennen-Brombeere. Die tatsächlich in den Ardennen, im deutsch-belgischen Grenzgebiet heimisch ist und vielleicht noch im Westerwald wächst.
Wie kommt die nur in die Haßberge, an diese eine, einzige Straße? „Zugvögel“, vermutet Finder Lenz Meierott.
Warum nur so viele?
Aber wieso nur ist Brombeere nicht gleich Brombeere? Wieso gibt es so viele verschiedene Brombeersippen? Dass es so viele Arten sind, liegt an der Fortpflanzungstaktik der stachelbewehrten Beeren: Einige vermehren sich durch Befruchtung, so wie Himbeeren. Die allermeisten Brombeeren sind „fakultative Apomikten“, so nennt der Biologe Pflanzen, die sich ungeschlechtlich vermehren, auf asexuellem Weg Samen bilden. Es braucht zwar Hummeln, Bienen, Schwebfliegen zum Bestäuben. Aber dabei wird keine Eizelle befruchtet, der Samen bildet sich auch so. Ums einfach zu sagen: Wäre die Brombeere ein Mensch, dann würde sich nach vollzogenem Beischlaf von Mann und Frau in der Frau eine Zelle entwickeln und ein Klon der Mutter entstehen.
Auch in den Pflanzenfamilien der Habichtskräuter, Mehlbeeren und Löwenzähne gibt es „Apomikten“, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen. Deshalb bilden auch Habichtskräuter, Mehlbeeren, Löwenzähne so besonders viele Arten und machen die Taxonomie für den Botaniker zur Herausforderung. Denn zufällig entstandene Kreuzungen können sich problemlos vermehren – und immer neue Arten können entstehen.
Auf die Details kommt es an
Ist der Strauch hochbogig oder flachbogig? Wie viele Stacheln hat der Schössling auf fünf Zentimetern? Sind die Stacheln breit oder flach, stehen sie im 90-Grad-Winkel ab oder sind sie gebogen? Gibt es Drüstenborsten oder nicht? Sind die Blätter drei- oder fünfzählig? Ist das Endblatt gelappt oder gleichmäßig löffelförmig? Ist der Blattrand gesägt oder nicht, die Blattunterseite weich oder fühlbar behaart? Sind die Früchte groß und saftig oder klein und verkümmert? Ein Merkmal reicht zur Unterscheidung nie aus. Und das wenigste, was den Brombeerforscher interessiert, ist, ob die Beere, die eine Steinfrucht ist, schmeckt.
Drei Monate Batologen-Saison im Gelände
Sisyphosarbeit. Bei jeder Pflanze muss der Botaniker unterscheiden, ob es sich nur um einen einzelnen Strauch handelt – oder um eine weiter verbreitete Art. Und an einem einzigen Forstweg können schon mal zehn bis 15 verschiedene Arten wachsen. „Erst wenn Pflanzen mindestens in einem Radius von 50 Kilometern verbreitet sind, sprechen wir von einer eigenen Art“, sagt Lenz Meierott. Drei Monate im Jahr können Batologen mit Heckenschere und Notizblock draußen unterwegs sein, so von Juli bis Ende September. „Ein Vorteil“, sagt Meierott, „bei Löwenzahn sind es nur zwei, drei Wochen!“ Im Winter dann bestimmen sie in Detektivarbeit die Blätter, Stängel, Früchte und kartieren die Rubus-Arten ihrer Region. „Man braucht Jahre, um bei Rubus einigermaßen sicher zu sein“, sagt Lenz Meierott. Er, der die Flora Unterfrankens so gut kennt, hat über all die Forscherjahre ein Herbar von 40 000 bis 50 000 Belegen zusammengetragen. Er schätzt, dass 2000 bis 4000 Rubus-Belege darunter sind.
Der Feind? Maisäcker und Straßenmeistereien
Und wie geht es den Brombeeren selbst? „Die Feinde der Brombeere sind die Straßenmeistereien, die alles abmähen“, sagt Botaniker Meierott. Vielerorts sind Heckenlandschaften komplett verschwunden, Brombeeren leiden unter der Intensivierung der Landwirtschaft. Man ackert bis an die Straße und den Waldrand, Felder werden überdüngt. Und nährstoffhungrige Arten nehmen den Brombeeren den Lebensraum. Und wenn irgendwo ein paar Sträucher verschwinden – dann kann es sein, es verschwindet damit eine ganze Art.
Was in der Brombeere steckt Die Brombeeren (Rubus sectio Rubus) sind eine Sektion aus der umfangreichen, weltweit verbreiteten Pflanzengattung Rubus innerhalb der Familie der Rosengewächse (Rosaceae). Die Sektion umfasst mehrere tausend Arten, allein in Europa wurden mehr als 2000 Arten beschrieben. Das Wort Brombeere hat sich aus dem althochdeutschen Wort „bramberi“ für Dorngebüschbeere oder Beere des Dornstrauchs, entwickelt. Für die Batologen, die Brombeerforscher, geht es in erster Linie um die exakte Bestimmung der einzelnen Arten, um eine saubere Taxonomie und genaue Kartierung. Aber auch als Heilpflanze ist die Brombeere interessant. Der griechische Arzt Dioskurides empfahl im ersten Jahrhundert, die Blätter des Strauches zur Kräftigung des Zahnfleisches zu kauen. Der römische Gelehrte Plinius riet zur Verwendung der Sprosse gegen Durchfall (wegen des Gerbstoffgehalts der Blätter) und Blutflüsse. Ebenfalls gegen Blutfluss wendete später Hildegard von Bingen das „brambeerekruth“ an. Auch in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) spielt die Brombeere eine Rolle: Blätter und Beeren wird eine thermisch kühlende Wirkung nachgesagt. Die Blätter sind dem Magen, dem Dickdarm und der Lunge zugeordnet, die unreifen Beeren den Nieren. In der Kräuterheilkunde schätzt man generell die stopfende, reinigende, blutdrucksenkende und entzündungshemmende Wirkung der Brombeere. Wegen des angenehmen Geschmacks sind Brombeerblätter, die man am besten in der ersten Maihälfte pflückt, in vielen Haustees enthalten.