Die 1000 Leute, die am Samstag vor der Schweinfurter Stadthalle stehen, haben ihre Haare wohl schon am Freitag gewaschen. Ihre Stimmen klingen wie Schlagbohrer. „Lasst uns rein! Aufmachen!“ Die Stimmung um 20.45 Uhr ist äußerst gereizt. Obwohl ab 20 Uhr Einlass gewesen sein sollte, tut sich nichts. Hinter einer Glastür gucken ein paar martialische Security-Schränke nach draußen. Man sieht ihre Angst. Es ist 20.45 Uhr und der Block da draußen will endlich rein zu seinen Helden. „Und außerdem wollen wir danach noch auf einen Geburtstag“, sagt eine Dame aufgebracht.
Das Publikum ist mit der Band gealtert. Seit 40 Jahren gibt es Nazareth jetzt, ihre beste Zeit hatten sie in den Jahren, als man Plateau-Schuhe aus Fieberglas (mit echten Fischen drin) trug, als in den Küchen Pril-Blumen klebten, als Kaba noch Plantagentrank hieß und Fanta in einer braunen geriffelten Flasche ausgeschenkt wurde. Damals waren die vier Schotten Darrell Sweet (Drums), Pete Agnew (Bass), Manny Charlton (Gitarre) und Dan McCafferty (Gesang) weltbekannt. Die Alben „Loud 'n' proud“ oder „Expect no mercy“ wurden auch von den härtesten Rockern nur mit einem zarten Reinigungstuch aus dem Cover geholt. Man hätte eher seine Mutter verkauft als sie zu verleihen.
Aber die Welt drehte sich weiter, und so lag statt der neuen Nazareth-Platte in den späteren 70ern entweder das erste Sex-Pistols-Album: „Never mind the bollox“ (zum Glück wussten damals Eltern nicht, was das heißt) oder eben eine Abba-LP unter dem Weihnachtsbaum. Nazareth aber konnten weder in die eine noch in die andere Richtung: Für Pop waren sie einfach zu rockig, und für echte Rebellion zu brav – sie tranken höchstens Whiskey, waren verheiratet und warfen niemals auf einer Tournee einen Fernseher durch ein geschlossenes Hotelzimmer-Fenster. So wurde dieses Rock-Dynamit irgendwann etwas zerrieben, zersiebt und immer wieder in neue Hülsen gefüllt. Die alten Erfolge stellten sich nicht mehr ein. Schade, denn heute wissen alle, wie die Rock-Geschichte danach enden musste: Mit geklonten, seelenlosen Profit-Robotern a la No Angels oder harmlosen Träller-Tussen wie Jeanette Biedermann.
Hier in der Stadthalle aber warten alle auf das Echte, Wahre, Gute und Schöne. Gegen 22.40 Uhr, die Vorgruppe ist schon längst von der Bühne, kommen die vier Herren durch düsteren Nebel. Die beiden Urgesteine Dan McCafferty und Pete Agnew tauchen sozusagen aus dem Dunkel auf, unterstützt von Petes Sohn Lee als Drummer sowie von Gitarrero Jimmy Murrison. Dans Gesicht sieht aus, als wäre darin vor Jahren Lava erstarrt. Oder wie eine abgewetzte Cowboy-Satteltasche mit Augen drin. Pete's Haupthaar ist mit den Jahren so dünn wie das Stimmchen von Annett Louisan. Beide sehen aus, als müssten sie von Berufs wegen vor, nach und zwischen jedem Wort mindestens einmal „Fuck!“ sagen.
Was gar nicht stimmt, weil die beiden älteren Herren, wie sich hinter der Bühne zeigt, von geradezu bestrickend putzigem Charme sind. Endlich ist die Stadthalle glücklich, weil eine unverwechselbare Stimme losheult, die nach 40 Jahren Rock'n Roll nach Cognac (den trinkt Sänger Dan gern) und tonnenweise Zigaretten klingt – wie ein anlaufender Akku-Schrauber. Ein Sound, den keiner vergisst, der jemals die Nazareth-Version von „Love hurts“ gehört hat.
Das Publikum, man darf es mal mit Berechtigung sagen, tobt. Bis halb eins wird alles gespielt, was einmal den Ruf der Band begründete: „This flight tonight“, „Razamanaz“, „Hair of the dog“ und natürlich „Dream on“. Da hat sich die Stimmung schon längst gewandelt. Wer sich von der Bühne weg Richtung Publikum dreht, sieht nur noch ein einziges, glückliches Wiedererweckungs-Lächeln. Das sich noch einmal eine Stufe weiterknipsen lässt: „Love hurts“. O ja: Und wie! Vor lauter Freude vergessen wir, uns nach dem Interview noch ein Autogramm geben zu lassen
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