Nein, so richtig quälenden Hunger kennt die Emma nicht. Die Achtjährige hält das Schnurknäuel bereit, reicht die Schere oder hält die kleinen Ährenbündel fest, bis sie ans Drahtgestell gebunden sind. Auch die fünf Frauen, die die Erntekrone binden, können sich eine solch große Not wie sie vor 200 Jahren im Dorf geherrscht hat, nicht vorstellen.
In der Lendershäuser Kirche St. Laurentius wird über der Tür zur Sakristei in einer verglasten Schmuckschachtel ein geflochtener Ährenkranz aufbewahrt. Er erinnert an die Hungerjahre 1816 und 1817, deren Ende am 17. August 1817 in Lendershausen mit einem Schnitterfest gefeiert wurde. „Hagel und Ueberschwemmung wechselten in ihrer zerstöhrenden Wuth, das Eine nahm mit, was das Andere noch uebrig gelassen hatte, und was die Elemente nicht thaten, das vollendete der gefühlloseste Wucher unserer Brüder“, schildert Pfarrer Gottfried B. Clericus mit bewegenden Worten die Katastrophe.
Tote lagen an den Straßen
„Tausende lagen an den Landstraßen“, beschreibt der Geistliche den schrecklichen Tod der Verhungerten, „denn eine Hand voll Gras, sonst das Futter des Viehes, das sie noch im Munde hatten, und noch sterbend mit den Zähnen fest hielten, sollte ihr Leben noch einige erbärmliche Augenblicke länger fristen.“
Die eindrucksvolle Predigt, die der damalige Pfarrer im Dankgottesdienst am 11. Sonntag nach Trinitatis hielt, ist in einem gedruckten Heftchen noch erhalten. Im Heft Nr. 6 „Die Hungerjahre 1816-1917 im heutigen Landkreis Haßberge“, erschienen 2008 in der Schriftenreihe des Historischen Vereins Landkreis Haßberge, belegen Christa Jäger und Wolfgang Jäger aus zahlreichen weiteren Quellen das Wettergeschehen und dessen Auswirkungen im Landkreis.
Als Folge der schweren Ernteeinbußen stiegen die Getreide- und Lebensmittelpreise stark an. Dies wiederum trieb breite Bevölkerungsschichten in Armut und Bedürftigkeit. „Tausende, die sonst nie Ursache hatten, einen ihrer Brüder um Unterstützung anzuflehen, die nahmen den Bettelstab aus Verzweiflung in die Hand“, beklagt Pfarrer Clericus in seiner Predigt.
„Wie oft blutete mir das Herz, und mußte auch jedem gefühlvollen hießigen Einwohner bluten, wenn so mancher Hungernde aus nahen und fernen Orten, der von Haus zu Haus, von Thür zu Thür nicht wanderte, nein, sondern nur schwebte, weil ihn seine Kräfte verlassen hatten, – der abgezehrt, vom Hunger ausgemattet, bei uns seinen Hunger stillen wollte, da wir doch selbst nichts hatten.“ Die Not machte erfinderisch: Kartoffeln, Rüben, Reis und gar Rindsblut vermischt mit Kleie wurden zu Brot verbacken, ist im Heft des Haßbergvereins nachzulesen. Auch mit Disteln, Brennnesseln, Flechten und Rinde versuchten die Menschen ihren Hunger zu stillen.
In zahlreichen Bittgottesdiensten flehte die Bevölkerung um Gottes Hilfe. „In dieser Not – wer findet Worte sie zu schildern, wie sie in manchen Gegenden war – da schrie die Menschheit zu dem ewigen Vater um Hülfe; da vereinigten sich ganze Nationen in gemeinschaftlichen Gebeten um Gnade und Erbarmung“, heißt es in Clericus' Predigt. Schließlich ordnete sogar der König von Bayern für alle Pfarrkirchen beider Konfessionen Gottesdienste an.
Auch wenn die Ernte im Sommer 1817 nicht reichlich ausfiel, reichte sie doch, um den größten Hunger zu stillen. Mit einem Festzug, angeführt von der Schuljugend und ihrem Lehrer, brachten die Lendershäuser die ersten Früchte ihrer Fluren in die Kirche. „Eine Totenstille herrschte in der ganzen Versammlung, und in dem Auge eines jeden zitterte eine Zähre (Träne)“, so Clericus über den Beginn des Dankgottesdienstes.
Vulkanausbruch als Ursache
Den Grund für das schlechte Wetter kannten die Menschen damals nicht. Erst etwa 100 Jahre später fand der amerikanische Klimaforscher William Jackson Humphreys die Ursache für das „Jahr ohne Sommer“ heraus. Der Ausbruch des Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa hatte im April 1815 rund 150 Kubikkilometer Staub und Asche sowie über 100 Megatonnen Schwefeldioxid in die Atmosphäre geschleudert. Wie ein gigantischer Schleier legten sich die Verschmutzungen um den Erdball, absorbierten vielerorts große Mengen Sonnenlicht und verursachten in Europa und Nordamerika einen Klimawandel mit katastrophalen Folgen. Während Amerika selbst im Sommer unter Eiseskälte und Schnee litt, suchten Europa sintflutartige Regenfälle, Hagelstürme und Überschwemmungen heim.
Der passionierte Heimatforscher Rudolf Ludwig hat die Geschichte des Ortes Lendershausen fest im Blick. Er machte Pfarrer Sieghard Sapper auf das Geschehen vor 200 Jahren aufmerksam. Dieser griff die Idee eines Gedenkgottesdienstes gerne auf. „Für uns ist es selbstverständlich, dass stets genügend Essen auf den Tisch kommt“. Eine derartige Hungersnot wie damals sei für unsere Generation unvorstellbar. „Anstatt immer gleich zu jammern, wenn es mal nicht nach unseren Vorstellungen läuft“, sagt Sapper, „sollten wir eher etwas dankbarer sein.“
Frauen binden kleine Bündel
In weiser Voraussicht baute Ludwig im Herbst vergangenen Jahres in seinem Garten das Getreide für eine Erntekrone an. „Jetzt würde man auf den Feldern nichts mehr finden“, begründet er die Aussaat. Nun schneiden die Frauen aus der evangelischen Kirchengemeinde die Halme auf passende Länge und binden sie in kleinen Bündeln an die Bögen des Eisengestelles.
Zwischen den Ähren von Sommerweizen, Hafer und Gerste stechen Ähren mit schwarzer Spelzenfarbe ins Auge. „Das ist schwarzer Emmer“, erklärt Ludwig. Die als „Urgetreide“ bekannte Weizenart zählt zu den ältesten bekannten Getreidesorten. In der Erntekrone, die beim Jubiläumsgottesdienst um 10 Uhr am Sonntag den Taufstein schmücken wird, setzen die schwarzen Ähren ganz besondere Akzente.
Im Anschluss an den Gottesdienst zieht die Gemeinde mit der Erntekrone zur alten Schule. Dort lädt die Hausgemeinschaft zum Schulhoffest ein. Neben Mittagessen gibt es Kaffee und Kuchen. Um 15 Uhr prämiert der Obst- und Gartenbauverein im Rahmen des Kinderwettbewerbes die größte Gemüsezwiebel.