Zu viele kleine Patienten, zu wenig Kinderärzte und verzweifelte Eltern: In der Versorgung von Kindern und Jugendlichen klaffen Lücken, auch in Unterfranken kann mancherorts nicht mehr jede Familie von einem Arzt betreut werden. Statistisch gesehen aber ist laut der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) kein Landkreis in der Region unterversorgt. Wie kann das sein? Und was muss passieren, gerade mit Blick auf den Beginn der nächsten Erkältungssaison?
"Ein Versorgungsgrad von 100 Prozent reicht heute nicht mehr, um die Patienten wirklich zu versorgen", sagt Kinderarzt Christian Rein. "Das ist Augenwischerei." Rein leitet gemeinsam mit Dr. Arman Behdjati-Lindner das Medizinische Versorgungszentrum (MVZ) für Kinder- und Jugendmedizin Haßberge. Es ist das einzige im Landkreis, gut 6000 Patienten werden hier pro Quartal behandelt.
Elf Kinderärztinnen und Kinderärzte arbeiten im MVZ, abgedeckt werden aber nur 5,5 Kassensitze
Im Sekundentakt drängen Eltern mit hustenden und schniefenden Kindern in die Praxisräume. Nicht nur jetzt, wenn die herbstlichen Virenwellen anrollen, herrscht Hochbetrieb. Elf Ärzte arbeiten im MVZ – allerdings würden damit nur 5,5 Kassensitze abgedeckt, sagt Behdjati-Lindner. Alle ärztlichen Mitarbeiter arbeiten in Teilzeit, teils mit nur zehn Wochenstunden.

Für die Versorgung der Kinder im Landkreis Haßberge reiche die Kapazität. Noch. Patienten aus Nachbarlandkreisen könne man jedoch nicht aufnehmen, obwohl es "jeden Tag zweistellige Anfragen" gebe, sagt Rein. Vor allem aus dem Raum Schweinfurt.
Dort sind derzeit eineinhalb Kinderarztsitze unbesetzt. Praxen mussten schließen, weil sich kein Nachfolger finden ließ. Zahlreiche Familien stehen seitdem allein, rund 1500 Kinder sind unversorgt. Bereits Ende 2022 warnten Mediziner aus der Region vor dem Notstand. Eine Lösung wurde bislang nicht gefunden. Bewerber für die offenen Sitze sucht die KVB vergeblich.
"Das werden wir in fünf Jahren in ganz Deutschland haben, überall werden Patienten unversorgt auf der Straße stehen."
Christian Rein, Kinderarzt in Haßfurt
"Es war abzusehen", sagt Dr. Klaus Hoffmann, Kinderarzt aus Niederwerrn. Auf dem Papier betrage der Versorgungsgrad für den Landkreis Schweinfurt zwar 98 Prozent, die Realität sehe jedoch anders aus. "Die Berechnung der KVB ist uralt und passt nicht zum Bedarf." Auch in seiner Praxis würden täglich verzweifelte Eltern anrufen, die nirgends einen Termin bekommen. Helfen könne er ihnen nicht, freie Kapazitäten habe er keine. Die KVB, kritisiert Hoffmann, wisse um die Probleme in der Kindermedizin – würde sie aber weder offen thematisieren, noch beseitigen.

Das sieht Joachim Lentzkow anders. Ja, es gebe bei der kinderärztlichen Versorgung in Unterfranken zwei Brennpunkte – Schweinfurt und Miltenberg, sagt der KVB-Vorstandsbeauftragte für die Region. "Dort fehlen an allen Ecken und Enden die Kinderärzte." Grund seien in Schweinfurt aber schlicht die eineinhalb offenen Arztsitze und daran könne die KVB im Moment nichts ändern. "Wenn es Kinderärzte gäbe, könnten die sich sofort niederlassen." Genau da aber liege die Crux: Es gibt keine.
Schweinfurt als Paradebeispiel für das Dilemma in der Kinderarztversorgung
Nur: Trügt der Versorgungsgrad von 98 Prozent da nicht? Ja, sagt Lentzkow. Die Zahlen sehe er als Hausarzt kritisch, "da muss man drangehen". Gleichzeitig halte er die Versorgungsplanung generell für sinnvoll, um Niederlassungen zu steuern. "Diese Zahlen garantieren, dass sich in Ballungszentren nur eine gewisse Anzahl an Ärzten niederlassen darf", sagt Lentzkow. Gäbe es keine Richtlinien, würden alle Mediziner in die Städte drängen und auf dem Land "hätten wir ein Problem".

Für Christian Rein ist es längst so weit. Schweinfurt sei "nur die Spitze des Eisbergs", kritisiert der 57-Jährige. Ein Paradebeispiel für das Drama der Kinderarztversorgung. Aber selbst in Würzburg, wo die KVB einen Versorgungsgrad von 187 Prozent listet, kann die Suche nach einem freien Kinderarzt zur Odyssee werden. In vielen Praxen gilt ein Aufnahmestop. Schließt ein Mediziner seine Räume, stehen seine Patienten zunächst allein da. "Das werden wir in fünf Jahren in ganz Deutschland haben, überall werden Patienten unversorgt auf der Straße stehen", sagt Rein. Nur: Warum?
"Es kommen keine Bewerber mehr", sagt Behdjati-Lindner. In seinem MVZ seien seit zehn Jahren dauerhaft eine Stelle zur Weiterbildung und eine Facharztstelle ausgeschrieben – erfolglos. Keiner wolle aufs Land, die Lage sei unattraktiv. Und vor allem werde schlicht zu wenig Nachwuchs ausgebildet, bundesweit fehlten Medizinstudienplätze.

"Die Ausbildungszahlen bei Medizinern basieren auf Annahmen von vor 30 Jahren", erklärt Rein. Auf Bedarfsplanungen aus den 1990er Jahren und Ärzten, die rund um die Uhr arbeiteten, 60 bis 70 Stunden die Woche. "Heute aber will das keiner mehr machen und deshalb fährt das System gegen die Wand."
Wie in so vielen Branchen, habe sich im Gesundheitswesen die Arbeitseinstellung verändert, immer mehr Ärzte würden die Selbstständigkeit und die Verantwortung scheuen. Der Trend geht zum Teilzeit-Arzt. "Das ist eins der Dilemmata, die die Gesundheitsversorgung erschweren", sagt Rein. Die Bereitschaft, eine Praxis zu übernehmen, "geht gegen Null".
Eltern gehen häufiger und schneller mit ihren kranken Kindern zum Arzt
Um überhaupt Mitarbeiter zu finden, mussten und müssen sich Rein und Behdjati-Lindner anstrengen, etwas bieten. "Es ist nicht nur das Geld, sondern die Rahmenbedingungen", sagt Behdjati-Lindner. Flexible Arbeitszeiten, eine Vier-Tage-Woche oder acht Wochen Extraurlaub. Der 51-Jährige zuckt die Schultern. Sonderwünsche seien längst die Regel. Noch 2016 hätten sie vom bayerischen Gesundheitsministerium einen Förderpreis für innovative Beschäftigungsangebote auf dem Land bekommen, "inzwischen macht das jeder". Muss es machen. Und trotzdem reicht es nicht.

Auch, weil die Zahl der Patienten stetig steigt. Eltern seien besorgter, würden häufiger und schneller zum Arzt gehen. Die "beruhigende Oma" fehle in vielen Familien, sagt Rein. Corona habe Unsicherheiten und Ängste noch verstärkt. Im vergangenen Winter, als RSV- und Influenzawelle synchron rollten, "lagen die Nerven blank". Und in den kommenden Monaten, fürchten die beiden Kinderärzte, könnte sich das wiederholen. "Ich erwarte genau das gleiche Chaos wie letztes Jahr", sagt auch der KVB-Beauftragte Joachim Lentzkow. Im ambulanten Bereich genauso wie in den Kliniken.
"Im Moment verdienen wir Geld mit Kindern, die einmal im Quartal da sind und drei Minuten brauchen."
Dr. Arman Behdjati-Lindner, Kinderarzt und MVZ-Leiter
Was aber würde die Situation verbessern? Mehr Studienplätze, sagt Rein. Es sei dringend nötig, den Bedarf an Kinderärzten neu zu berechnen – und den Beruf attraktiver zu machen. "Früher war man 95 Prozent Arzt und fünf Prozent hat man in die Verwaltung der Praxis gesteckt", so Rein. Heute koste die Bürokratie enorm viel Zeit und Nerven. Hier brauche es neue Konzepte, die Möglichkeit, Verwaltungsarbeit auszulagern. Und: Kindermedizin müsse sich wieder lohnen.

"Im Moment verdienen wir Geld mit Kindern, die einmal im Quartal da sind und drei Minuten brauchen", sagt Behdjati-Lindner. Aufwendige Untersuchungen, längere Gespräche und so manche Vorsorge sei unrentabel. Wenn sich daran nichts ändere, "werden die Leistungen für Patienten künftig massiv eingeschränkt", warnt Rein. Kollegen würden sich dann den ein oder anderen Ultraschall verkneifen, "dann bekommt das Kind eine Überweisung in die Hand und muss monatelang auf einen Termin in einer Klinik warten".
Drohen also künftig in Unterfranken weitere Lücken in der kinderärztlichen Versorgung? Genau dagegen gelte es anzugehen, sagt Joachim Lentzkow. "Wir müssen die Kinderärzte motivieren, dass sie rausgehen aufs Land." In der Region soll deshalb ein Weiterbildungsverbund entstehen, mit Vertretern aus ambulanten Praxen und Kliniken. Um die Zukunft zu sichern, so Lentzkow, brauche es das Engagement der älteren Mediziner und mehr Bereitschaft, junge Kollegen auszubilden. "Wir meckern gerne an den Zahlen – aber das allein bringt uns nicht weiter."