Auf dem Dachboden, im alten Schrank der Großeltern, in einer Geschirrkiste im Keller. Immer wieder stoßen Leserinnen und Leser überraschend auf alte Ausgaben ihrer Heimatzeitung. Das vergilbte Papier führt ihnen dann vor Augen, wie schnell doch die Zeit verstreicht. Was gestern wichtig war, ist heute vergessen. Wer derzeit das Museum für Sepulkralkultur in Kassel besucht, der entdeckt, diesmal aber nicht zufällig, ebenfalls alte Lokalzeitungen: Sechs gleiche Ausgaben des Haßfurter Tagblatts, angeordnet als Assemblage und hinter Vitrinenglas im Dienste der Kunst: Es ist das Vergänglichkeitswerk II/transit des in Eschenau lebenden Künstlers Herman de Vries. Assemblage bedeutet so viel wie Anordnung von plastischen Objekten auf einer Grundplatte.

Eine Sonderausstellung unter dem Motto "Vergehen"
Die sechs HT-Ausgaben gehören zur Ausstellung "Vergehen", mit denen das Kasseler Museum bis zum 1. August das Schaffen von de Vries würdigt, der als Künstler internationales Renommee genießt. Künstler und Ausstellung scheinen ideal zum Museum zu passen, das sich als kulturgeschichtliche Spezialeinrichtung den Themenfeldern Sterben, Tod, Bestattung, Trauer und Gedenken verschrieben hat.

Denn: Im Zentrum des Schaffens des Künstlers stünden Zufall, Wandel und die permanente Veränderung allen Seins, heißt es im Begleittext zur Ausstellung. Ganz in diesem Sinne hat Herman de Vries einst mit sechs identischen Ausgaben des Haßfurter Tagblatts experimentiert: Fünf Expemplare legte er in seinen Garten und beobachtete, wie sie sich mit der Zeit verändern. Eine Ausgabe dokumentiert den Zustand nach einem Monat unter freiem Himmel, das geht so fort bis zur fünften Ausgabe, die fünf Monate im Freien war.
Von links nach rechts zunehmender Zerfall
"Für die Assemblage hat er die unterschiedlich verwitterten Zeitungen mit einem druckfrischen Expemplar zusammengeführt: So wird Zeit auf künstlerische Weise durch Zeitungen sichtbar", erklärt das Museum für Sepulkralkultur seinen Besucherinnen und Besuchern im Ausstellungkatalog. Der Betrachter sieht in einer Reihe von links nach rechts den zunehmenden Grad der Verwitterung, von der unberührten Ausgabe bis hin zum von Blättern bedeckten Rechteck, das als Zeitung kaum noch erkennbar ist.
Das Bemerkenswerte aus heutiger Sicht: Das "Einst" im vorhergehenden Absatz liegt über 40 Jahre zurück. Das Kunstwerk mit den verwitternden Zeitungen stammt aus dem Jahr 1980 - ist aber in der Region, und ehrlich gesagt auch in der Redaktion, eher in Vergessenheit geraten. Ein Anlass für diese Zeitung, dem Künstler ein paar Fragen zu stellen, etwa ob Kunst selbst vergänglich ist und was von ihm der Nachwelt erhalten bleiben soll.

Wie vergänglich ist die Kunst?
Redaktion: Herr de Vries, ist ein Kunstwerk, das die Vergänglichkeit zeigt, selbst vergänglich -materiell wie immateriell. Und hat es noch die Aussagekraft wie vor 40 Jahren?
Herman de Vries: Es gibt nichts, was nicht vergänglich ist. Dieselbe Aussagekraft hat es sicher, aber alles um uns herum ändert sich, kann anders wahrgenommen werden.
Als Sie das Haßfurter Tagblatt für das Vergänglichkeitswerk ausgewählt haben, hatten Sie da nur die Vergänglichkeit von Zeitungspapier vor Augen. Oder auch die Vergänglichkeit, das Vergessenwerden der Inhalte, der Texte und Bilder?
De Vries: "Nichts ist so veraltet wie die Zeitung von gestern. Diese Arbeit zeigt, wie alles im Prozess ist: in Transit. Auf der Zeitung, die einen Monat im Garten unter dem Holunderbusch gelegen hat, war der Text schon etwas verwittert. Nach zwei, drei und vier Monaten konnte man immer weniger lesen. Es wurde etwas ganz anderes, und nach fünf Monaten war die Zeitung ganz von den Blättern des Holunders bedeckt. Eine Ausgabe vom Haßfurter Tagblatt habe ich im Haus bewahrt, so dass man sehen kann, was es ursprünglich war. Es ging um einen Prozess, um den Prozess, von dem wir alle Teil sind. Als Kunstwerk trägt es zum Bewusstwerden über diesen Prozess teil. Für mich ist Kunst ein Beitrag zum Bewusst-sein und Bewusst-werden."

Warum haben Sie damals ein Haßfurter Tagblatt gewählt. Es hätte doch auch die Süddeutsche Zeitung sein können, Bild oder FAZ, die viel bekannter sind und waren als die "kleine Lokalzeitung"?
De Vries: Das war naheliegend, weil ich hier lebe. Ich bin vor 50 Jahren hierher gekommen. Und der Steigerwald hat mich so fasziniert, ich bin geblieben und es war die beste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe. Und schließlich habe ich sogar einen deutschen Pass zu meinem niederländischen dazu bekommen. Und damit bin ich europäischer geworden.

Im Begleitheft zu Ihrer Ausstellung in Kassel ist ein Gedicht von Ihnen zitiert: umarmt von der welt / werde ich sterben /es gibt kein entkommen / freue dich / tanze / tanze. Dürfen wir daraus entnehmen, dass Vergänglichkeit, der Tod, für Sie etwas Befreiendes, Erlösendes haben?
De Vries: Nein, es ist einfach die Tatsache meiner Existenz. Also freut euch, tanzt.
Sie werden in Kürze 90 Jahre alt. Bei aller Vergänglichkeit irdischen Daseins und Tuns: Was wünschen Sie sich, das von Ihnen überdauert? Was von Ihnen soll so lange als möglich der Nachwelt erhalten bleiben?
De Vries: Ich wünsche mir, dass die Spuren, die ich in meiner Arbeit gelegt habe, noch einige Zeit weiterverfolgt werden.
Das Museum für Sepulkralkultur befindet sich in der Weinbergstraße 25-27 in 34177 Kassel, Telefon (0561) 918 93-0. Das Museum ist montags geschlossen. Alle anderen Tage ist es von 10 bis 17 Uhr und mittwochs bis 20 Uhr geöffnet. Die Sonderausstellung "Herman de Vries. Vergehen" kann bis zum 1. August besucht werden. Viele weitere Ausstellungsobjekte von de Vries können auch im Internet betrachtet werden auf der Homepage des Sepulkralmuseums.