Im Angesicht der kurzen Lebens- und langen Leidenswege von jüdischen Kindern im Landkreis Haßberge während des Zweiten Weltkriegs von einer „Erfolgsstory“ zu sprechen, ist paradox. Der Geschichtslehrer vom Eberner Friedrich-Rückert-Gymnasium, Daniel Heß, tut es trotzdem. Zusammen mit den Schülern eines P-Seminars hat er die Schicksale jüdischer Kinder aus den Haßbergen zum Leben erweckt und unter dem sehnsüchtigen Titel „Vergissmeinnicht“ zu einer Ausstellung zusammengetragen. Die Sehnsucht wird nun gestillt: Nach vielen Stationen in Unterfranken ist die Ausstellung quer über dem Atlantik in Amerika zu sehen.
Offene Ohren bei den Lehrern
Initiatorin dieser Ausstellung war die Geschichtsforscherin Cordula Kappner. Es war ihr eine „Herzensangelegenheit“, dieses Kapitel und diese jungen Menschenschicksale aus ihrem Archiv in Gleisenau noch vor ihrem Tod ans Tageslicht zu bringen. Auf offene Ohren gestoßen mit der Idee ist sie bei Lehrer Daniel Heß am Eberner Gymnasium. 16 Schülerinnen und Schülern stellte sie die jüdischen Kindern vor, die zum großen Teil mit einem unbekannten Todestag in die Geschichte eingegangen sind. Ein gutes Jahr beschäftigten sich die Gymnasiasten mit Selma, Siegbert, Fred, Therese und all den anderen, die aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln keine Chance im Leben hatten.
Im Januar dieses Jahres wurde die Ausstellung in Ebern feierlich eröffnet. Diesen unglaublichen Erfolg durfte Cordula Kappner noch miterleben. „Das ist verrückt, dass ein P-Seminar so etwas erreicht hat“, ist die 19-jährige Marie Ratzke aus Burgpreppach, die an der Ausstellung mitgearbeitet und oft zu Tränen gerührt war, überzeugt.
Ausstellung nicht geplant
Denn es lief komplett anders, als das P-Seminar es auf dem Plan hatte. Zu Beginn stand, außer vieler Ideen, nur ein Konzept, das versicherte, dass die Kinderschicksale nach kurzer Zeit wieder in der Schublade verschwinden würden: „Wir hatten kein Geld, um die Informationen dauerhaft und ausstellbar zu präsentieren“, so Daniel Heß. Der Bürgerverein Ebern hat mit einer Spende von 1000 Euro später offene Türen eingerannt und weitere Unterstützer klopften bei den Gymnasiasten an.
Es entstanden 24 großformatige professionell gestaltete Banner mit Schicksalen von jüdischen Kindern aus dem unterfränkischen Raum, die nun auch in Towson, Maryland, in der örtlichen Universität zu sehen waren. Ein Ereignis, dessen Zustandekommen von Cordula Kappner und einem der 24 Kinder eingefädelt wurde: Fred Emil Katz ist ein Junge aus Oberlauringen, der den Holocaust überlebt hat. Im Dorf hatte seine Familie eine Metzgerei, bis die Nationalsozialisten einmarschierten. Fred gelang mit knapp zwölf Jahren die Flucht nach England, heute lebt er in Towson. Dorthin hat es auch seine Schwester geschafft. Seine Eltern und sein Stiefbruder hingegen verloren ihr Leben. Deshalb war Fred Emil Katzs Drängen groß, eine englische Version von „Vergissmeinnicht“ auch in Übersee auszustellen.
An sechs Orten in Franken gezeigt
Nach sechs verschiedenen Ausstellungsorten in den Haßbergen über den Bamberger und Coburger Landkreis und sogar in Würzburg wurde „Vergissmeinnicht“ mit dem Titel „Forget-me-not“ am 13. November 2017 in Towson offiziell eröffnet. Fred Emil Katz musste Ashley Todd-Diaz, Leiterin des Hochschul-Archivs, nicht lange überreden.
Sie war sofort begeistert und aktivierte Sponsoren, damit die Ausstellung in guter Qualität geboten werden kann. Die ehemalige Kollegin von Daniel Heß, Britta Commandeur und ihr Mann Luke übersetzten mit sprachlichem Detail die Kinderschicksale. Mediengestalter und Bruder von Heß, Oliver Heß, der dem Projekt von Beginn an den gestalterischen Input beisteuert, entwarf die Plakate in englischer Sprache. „Die haben das nicht nur ausgedruckt, sondern sogar Rollups anfertigen lassen. Das wurde immer größer“, berichtet Daniel Heß.
Gastredner Fred Emil Katz
Zur Vernissage kamen mehr als 150 Menschen. Unter ihnen auch Fred Emil Katz, der als Gastredner und Überlebender auftrat. Er sprach eindrucksvoll über seine Erlebnisse während des Holocausts und seine Erfahrungen mit diesem besonderen Kapitel der Geschichte, die der Soziologieprofessor auch in mehreren Büchern niedergeschrieben hat. „Es ist sehr bewegend“, so Fred Emil Katz über die Ausstellung, denn das Material sei wirklich authentisch. Noch mehr hat ihn berührt, dass die Ausstellung von „Kindern über Kinder, die Opfer geworden sind“, gestaltet wurde, „sie hatten das gleiche Alter.
“ Das mache die ganze Arbeit rund um „Vergissmeinnicht“ so „tief gehend“ für ihn.
Es geht weiter in den USA
Ashley Todd-Diaz und ihre Kollegin Joyce Garzynski, die die Ausstellung in der Towson-Universität organisiert haben und im Vorfeld viel per E-Mail mit Daniel Heß kommuniziert haben, wollen, dass die Ausstellung und somit das Schicksal der jüdischen Kinder in Amerika „weiterlebt“: „Wir erarbeiten gerade einen Lehrplan, der die Veranstaltung begleiten soll und freuen uns, das mit vielen Schulen, Museen und Gemeindezentren teilen zu können“, schrieb Ashley Todd-Diaz wenige Tage nach der Vernissage an Daniel Heß. „Die Banner zeigen Bilder der Kinder. Sie sind lebensgroß. Es macht den Holocaust durch diese Geschichten wirklich persönlich“, formuliert es Joyce Garzynski, „es ist unglaublich, unglaublich bewegend.“
„Das läuft ohne uns weiter“, ist Daniel Heß begeistert und auch ein wenig stolz, „mir war klar, dass das Thema Kinder und Nationalsozialismus zieht.“ Dass „Vergissmeinnicht“ nun aber rund um den halben Erdball die Menschen zum Erinnern anregt, hätte er zu Beginn des Seminars nicht geträumt. Mehr als 2500 Besucherinnen und Besucher haben die Ausstellung national als auch international bis heute besucht. Einer von ihnen ist Jochen Oppenheimer, der sich gut mit der Geschichte der Juden in Unterfranken auskennt und auch im Austausch mit Cordula Kappner stand. Er führt „Vergissmeinnicht“ nun in ein weiteres Land.
Nach Portugal ins Parlament
Jochen Oppenheimer, Vorstandsmitglied der Memoshoá Lissabon, organisiert eine Übersetzung ins Portugiesische: Anlässlich des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz Ende Januar 2018 soll „Vergissmeinnicht“ im Parlament von Portugal zu sehen sein. Die Finanzierung übernimmt die deutsche Botschaft. „Das ist für uns ein Wahnsinn“, gesteht Daniel Heß freudig, „wir bekommen das zurück, was wir gegeben haben.“ Das sehen natürlich auch die Schüler so. „Das Feedback ist unglaublich“, sagt etwa Marie Ratzke.
„Vergissmeinnicht“ in der Region in 2018 Den kompletten Januar bis zum 10. Februar ist die Ausstellung im Dokumentationszentrum im Zeiler Hexenturm zu sehen, unmittelbar danach wandert sie ins Bamberger Stadtarchiv (Ausstellung bis Ende März). Zurück im Landkreis ist „Vergissmeinnicht“ vom 12. April bis 11. Mai im BIZ in Haßfurt, den kompletten Juni wiederum in der Stadtbücherei Baunach. Die Synagoge Memmelsdorf zeigt die Ausstellung vom 1. Oktober bis einschließlich 10. November 2018. Mindesten dreimal pro Woche hat Lehrer Daniel Heß heute, nach Projektende, mit „Vergissmeinnicht“ zu tun. „Das ist viel Arbeit, aber es macht Spaß“, so Heß, „wir versuchen auch, bei jeder Ausstellungseröffnung dabei zu sein.“ In Towson war er das übrigens auch dabei – per Videobotschaft, „anders wäre es nicht gegangen. Sonst hätte ich wegen der Zeitverschiebung mitten in der Nacht aufstehen müssen.“ Kontakt zu „Vergissmeinnicht“: Friedrich-Rückert-Gymnasium, Gymnasiumstraße 4, 96106 Ebern, Telefon : 09531-92210, E-Mail: hessd@web.de
Einträge in das Gästebuch „Gut ist es zu wissen, dass sich die Schüler und andere um das Nicht-Vergessen kümmern. Danke für die gute Ausstellung.“ A. Tafel „Je präziser und unkommentierter die Geschichte erst des Glücks, dann des Grauens dargestellt wird, desto mehr berührt und bewegt sie. Große Anerkennung und vielen Dank allen, die mitgearbeitet haben. Möge Cordula Kappner, die mutige und beharrliche Erforscherin der Wege jüdischer Gemeinden, Frauen, Kindern und Männern im Haßgau, mit ihrer Seele eingedrungen sein ins Bündnis der Lebenden.“ Hans Schumberger „Eine zutiefst bewegende, erschütternde Ausstellung, für die allen Beteiligten höchster Respekt und großer Dank gebührt.“ Stefan Rohrbacher „Ergreifend, kaum zu ertragen. Und so unglaublich gut gestaltet – graphisch, konzeptionell, sprachlich.“ Claudia Rohrbacher „Sehr geehrter Herr Heß, Ihnen ist mit Ihren Schülern eine wirklich ergreifende Ausstellung gelungen. Diese hat mich derartig „mitgenommen“, dass ich den Tränen nahe war. Großen Respekt!“ S. Lurz