Nicht nur Literatenkreise waren lange Zeit irritiert über dieses Diktum des Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno (1903 bis 1969): "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." Diese Aussage aus Adornos Aufsatz "Kulturkritik und Gesellschaft", geschrieben im Jahr 1949, wurde unterschiedlich interpretiert: entweder als reine Provokation oder als generelles Verdikt gegen jegliche Dichtung nach dem Holocaust und konkretes Darstellungsverbot von Gedichten über Auschwitz und die Konzentrationslager. Der vollständige Satz aus Adornos Aufsatz lautet: "Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben."
Adorno modifizierte die Aussage mehrfach. Und erfuhr, dass diese Erklärungen als Revision oder Widerruf der ursprünglichen These verstanden wurden. Ohnehin reagierten gerade Lyriker mit Gegenthesen oder dichterischen Werken. Insbesondere Paul Celans (1920 bis1970) bekanntes Gedicht "Todesfuge", in den Jahren 1944 bis 1945 entstanden und 1947 erstmals veröffentlicht, wurde zum Brennpunkt von Adornos Wort. Celan selbst hatte dieses von sich gewiesen: "Was wird hier als Vorstellung von Gedicht unterstellt? Der Dünkel dessen, der sich untersteht, hypothetisch-spekulativerweise Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive zu betrachten oder zu berichten." (Zitat in Wolfdietrich Schnurre: Dreizehn Thesen gegen die Behauptung, daß es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, 5. und 6. These.)
"Das Thema Lyrik nach Auschwitz ist gewaltig", sagt denn auch Martin Neubauer. Gleichwohl stellt sich der Prinzipal des Bamberger Brentano-Theaters und Rezitator dieser Herausforderung, die das Leitungsteam der St. Elisabeth-Gemeinde an ihn herangetragen hat: Neubauer und seine Kollegin Gertrud Eiselen werden am Karfreitag um 16.30 Uhr in der Elisabethenkirche das Wagnis eingehen, Worte des Unsagbaren von Überlebenden des Holocaust auszusprechen. Oder auch Gedichte von Männern und Frauen zu lesen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
Martin Neubauer nennt als ein Beispiel Werke der mit einer Schar Kinder in Auschwitz umgekommenen Ilse Weber (1903 bis 1944): "Ihre Gedichte sind so klar und unmittelbar erschütternd, dass ich ihnen gerne Raum geben möchte", erklärt Neubauer zu einem Schwerpunkt der Karfreitags-Lesung. Während des Zwangsaufenthalts in Theresienstadt habe Weber zahlreiche Gedichte verfasst, die die Verbrechen im Ghetto und die Ängste einer jungen Mutter aus unmittelbarem Erleiden beschreiben: "Es ist zum Erstarren", bekennt Neubauer. Am Ende stehe freilich eines der bezaubernden Märchen Webers, voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft - und ein Gebet des jüdischen Gelehrten und Rabbiners Leo Baeck, der um Frieden und Vergebung fleht.
Für Martin Neubauer ist Adornos berühmte Aussage, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, eine berechtigte Mahnung. "Nur voll Demut" nehme er etwa das "zeitlos aufwühlende Gedicht Todesfuge von Celan in den Mund". Oder den "Chor der Geretteten" von Nelly Sachs (1891 bis 1970). Auch diese Werke bringt Martin Neubauer in St. Elisabeth zu Gehör.
Frank Eichfelder spielt auf der Querflöte Melodien von Ilse Weber, die auch Lieder komponiert hat, sowie Stücke von unter dem NS-Regime verbotenen und emigrierten Komponisten.