Die Bilder der Unfallstelle auf der A 3 bei Geiselwind (Lkr. Kitzingen) am Freitag waren erschreckend. Und damit sind nicht nur die Bilder von dem zerdrückten Wohnmobil gemeint, in dem ein Familienvater ums Leben kam. Erschreckend war auch, was sich auf der Gegenfahrbahn abspielte: Autofahrer filmten und fotografierten im Vorbeifahren die Unfallstelle. Manche nahmen dafür sogar beide Hände vom Lenkrad und brachten so sich selbst und andere Verkehrsteilnehmer in Gefahr.

Ihre Schaulust kann eine Reihe von schweren Folgen nach sich ziehen: Oft behindern sie Polizei und Rettungskräfte bei der Arbeit am Unfallort oder lösen durch Abbremsen Staus auf der Gegenfahrbahn aus, die wiederum zu Unfällen führen. Und wer vor lauter Schaulust vergisst, eine Rettungsgasse zu bilden, sorgt dafür, dass Helfer wertvolle Zeit auf dem Weg zur Unfallstelle verlieren. Durch die Verbreitung der Film- und Fotoaufnahmen missachten Gaffer außerdem die Rechte der Unfallopfer. Mancher mag sich über diese Konsequenzen seines Handels sogar im Klaren sein – und trotzdem können viele das Gaffen nicht sein lassen. Warum?
Menschen suchen Aufregung
„Die eine“ Antwort auf diese Frage gibt es nicht, sagt Sozialpsychologe Dr. Roland Deutsch von der Universität Würzburg. Stattdessen spielten mehrere Faktoren zusammen: Zunächst einmal fühlten sich Menschen schon immer zu spannenden, aufregenden Dingen und Situationen hingezogen. „Deshalb lesen wir gerne Kriminalromane, schauen Horrorfilme oder steigen auf dem Rummelplatz in gefährlich aussehende Fahrgeschäfte“, so Deutsch. „Sensation Seeking“ lautet der englische Fachbegriff für dieses Verhalten. „Diese 'Aufregungssuche' ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das bei manchen Menschen stärker ausgeprägt ist als bei anderen.“ Auch Unfälle seien eben eine Möglichkeit, das persönliche Aufregungsbedürfnis zu befriedigen. Da schaue man oft auch ungewollt hin.
Deutsch stellt außerdem die Vermutung an, dass negative Ereignisse die menschliche Aufmerksamkeit auch deswegen so stark anziehen, weil wir aus dem Unglück anderer lernen wollen: „Ich kann mir vorstellen, dass wir auch hinschauen, um nicht den gleichen Fehler zu machen und so unser eigenes Überleben zu sichern.“ Untersucht habe man diese Theorie aber noch nicht.
Ein zweiter erwiesener Faktor, der Schaulustige antreibt, ist die Aufmerksamkeit, die sie erfahren, wenn sie ihre Filme und Fotos im Internet verbreiten. Deutsch nennt das die „soziale Belohnung“ – und die gibt es nicht erst, seitdem jeder ein Smartphone mit Kamera in der Tasche hat. „Früher hat man eben mit Freunden, Familien und Nachbarn über das Erlebte geredet und so Anerkennung bekommen“, sagt Deutsch. Die Wichtigkeit dieser sozialen Belohnung habe sich durch Smartphones und soziale Netzwerke aber erhöht.
Gaffen als Helfer-Reflex?
So gefährlich gaffen auch sein kann – Deutsch unterstellt den Neugierigen trotzdem nicht unbedingt böse Absichten. „Ich vermute, dass hinter der Schaulust häufig auch der Reflex zu helfen liegt“, sagt er. Der Mensch sei schließlich von Natur aus eine hilfsbereite Spezies, das könne man schon am Verhalten von Kleinkindern ablesen. „Wer aber auf der Autobahn einen Unfall auf der Gegenspur sieht, der kann nicht einfach aussteigen und helfen, das wäre viel zu gefährlich“, so Deutsch. Weil der Mensch nicht helfen kann, will er also zumindest hinschauen – so paradox das klingt.
Der Sozialpsychologe empfiehlt trotz Helfer-Reflex, sich dem Impuls zum Gaffen nicht hinzugeben. Deswegen sei Unfallberichterstattung in den Medien so wichtig, denn dort könnten die „Aufgeregten“ und „Aufregungssuchenden“ ihre Neugierde stillen, ohne sich und andere in Gefahr zu bringen.