Plötzlich ging alles ganz schnell. Viereinhalb Jahre hat Fabian Nemitz mit seiner Familie in Kiew gelebt. Die Aufmärsche an der russisch-ukrainischen Grenze schienen weit weg. Dann kam die Aufforderung, das Land zu verlassen.
Frage: Wie haben Sie die letzten Tage erlebt?
Nemitz: Es war ganz schön aufregend. Am Samstag haben wir von Bekannten aus der Botschaft gehört, dass jetzt auch deutsche Staatsbürger das Land verlassen sollen, wenig später kam die offizielle Meldung. Dann haben wir schnell reagiert.
Wie läuft das mit einer offiziellen Mitteilung?
Nemitz: Wir hatten uns in die sogenannte Krisenvorsorgeliste eingetragen. Das können alle deutschen Staatsbürger und ihre Familienangehörigen, die sich vorübergehend oder dauerhaft im Ausland aufhalten. Dadurch hat die Deutsche Botschaft schnell einen Überblick, wer sich im Land befindet und kann Reisewarnungen direkt weitergeben.
Was musste alles organisiert werden?
Nemitz: Der Arbeitgeber musste informiert, ein Flug gefunden werden. Wir konnten am Montag um 4 Uhr in der Früh abheben. Der Flieger war voll besetzt. Die Lufthansa hatte allerdings angekündigt, weitere Flüge anzubieten, wenn nötig, und große Maschinen einzusetzen. Es bestand die Gefahr, dass bei einer militärischen Eskalation der Luftraum schnell geschlossen würde.
Es sind alle aus dem Land geflogen worden?
Nemitz: Alle, die wollten, soweit ich weiß. Die Deutsche Botschaft ist nach wie vor besetzt, wenn auch nicht mehr mit der gleichen Personalstärke.
Was haben Sie alles mitgenommen?
Nemitz: Nicht viel, Kleidung, ein paar Spielsachen der Kinder. Wir können von Glück sagen, dass wir bei meinen Eltern in Castell einen Anlaufpunkt haben, den wir jederzeit ansteuern können.
Was passiert mit der Wohnung?
Nemitz: Unsere Wohnung und den Hausrat mussten wir zurücklassen. Bekannte werden immer mal nach dem Rechten schauen.
Kehren Sie zurück?
Nemitz: Kann ich nicht sagen, das hängt von der weiteren Entwicklung der Sicherheitslage ab. Ich hoffe natürlich, dass sich die Lage möglichst schnell beruhigt und ich wieder zurückkehren kann.
Halten Sie Kontakt in die Ukraine?
Nemitz: Natürlich. Nach allem, was ich höre, läuft in Kiew nach wie vor alles in ruhigen Bahnen. Die Menschen gehen weiterhin im Park spazieren, es gibt keine Hamsterkäufe oder Ähnliches. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen laufen weiter. Die Kollegen von der Auslands-Handelskammer (AHK) haben uns berichtet, dass alle deutschen Unternehmen auch weiterhin im Land bleiben wollen.
Wie kommen die Ukrainer mit der Situation zurecht?
Nemitz; Sie sind weiter erstaunlich gelassen. Aber natürlich machen sich alle ihre Gedanken. Wenn so viele Ausländer das Land verlassen, dann kommt man ins Grübeln. Kiew ist zwar weit weg von der russischen Grenze und der Kontaktlinie in der Ostukraine. Sorgen bereitet aber der Truppenaufmarsch an der Grenze zu Belarus. Die Entfernung beträgt Luftline nur hundert Kilometer.
Fühlen Sie sich erleichtert, in Deutschland zu sein?
Nemitz: Ja und nein. Es ist kein schönes Gefühl, als Ausländer das Land zu verlassen, während die Ukrainer dort bleiben müssen. Das fühlt sich ein wenig wie eine Flucht an, bei der man die Freunde im Stich lässt.
Im Moment sieht es so aus, als würde es doch keinen Krieg geben.
Nemitz: Ja, wir beobachten die politischen Entwicklungen von hier aus natürlich sehr aufmerksam und freuen uns, dass sich Teile der russischen Truppen offensichtlich zurückziehen. Vielleicht können wir ja doch noch mal nach Kiew zurückkehren, um richtig Abschied zu nehmen
Zur PersonFabian Nemitz ist in Castell aufgewachsen, hat das Abitur am Egbert-Gymnasium Münsterschwarzach gemacht. Er studierte Internationale Volkswirtschaftslehre in Tübingen. Seit 2007 arbeitet er bei Germany Trade & Invest, von 2012 bis 2017 war er in Almaty in Kasachstan, seither in Kiew. Nemitz spricht fließend Russisch und Englisch.