Im Jubiläumsjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" blickt die Redaktion auf die Geschichte der Juden im Landkreis Kitzingen zurück. Gastautor Wolf-Dieter Gutsch aus Wiesentheid hat dazu mehrere Familien-Schicksale zusammengetragen, die wir in einer Serie vorstellen. Heute: die Familie Grünebaum aus Prichsenstadt.
Im Jahre 1840 wurde der 1807 in Wiesenbronn geborene Seligmann Bär Bamberger zum Distriktsrabbiner von Würzburg gewählt. Er gründete in der unterfränkischen Hauptstadt 1858 eine jüdische Volksschule und 1864 die Israelitische Lehrerbildunganstalt (ILBA). An ihr erhielten die jüdischen Religionslehrer eine Ausbildung und wurden auf die staatliche Prüfung für das Lehramt an Volksschulen vorbereitet.

Der letzte jüdische Religionslehrer von Prichsenstadt war ab Mitte 1935 Alfred Grünebaum. Er kam am 22. Juni 1909 in Sulzbürg in der Oberpfalz zur Welt.
Aus der Oberpfalz über Marktbreit nach Obbach
Nach der Grundschule schickten ihn seine Eltern auf die Realschule in Marktbreit, wo Alfred bei seiner Tante Malchen Tachauer, geb. Grünebaum, und seinem Onkel Simon Tachauer wohnte. Danach besuchte er die Oberrealschule in Würzburg und entdeckte dort seine Neigung zum Fußball- und zum Schachspiel.
1926 begann er die Ausbildung an der ILBA in Würzburg, die er 1929 abschloss. Seine erste Stellung trat er am 1. Mai 1930 in Obbach bei Schweinfurt an, wo ein Jahr vorher die jüdische Volksschule wegen zu geringer Schülerzahl geschlossen worden war und sowohl die Schüler als auch der Lehrer in die evangelische Volksschule übernommen wurden.
In Obbach unterrichtete Alfred Grünebaum die unteren Klassen der Volksschule und war nebenbei sowohl für den jüdischen Religionsunterricht als auch für die Gottesdienste in der Synagoge zuständig. Hier lernte er seine spätere Frau Irma, Tochter des Mehl- und Getreidehändlers Emil Schlorch und seiner Frau Sophie, geb. Silbermann, kennen. Das Paar heiratete am 19. Mai 1935 in Obbach und zog am 20. Mai 1935 nach Prichsenstadt.
Mit dem Motorrad im Landkreis unterwegs

Dort trat Grünebaum die Stelle als Lehrer und Kantor an – er war für jüdischen Religionsunterricht, Gottesdienste und kirchliche Amtshandlungen in Prichsenstadt, Altenschönbach, Kleinlangheim und Großlangheim zuständig. Dienstsitz war Prichsenstadt; dort wohnte Grünebaum mit seiner Frau und dem am 22. Januar 1937 geborenen Sohn Joachim Stefan in einer geräumigen Lehrerwohnung im Synagogengebäude. Die Wege zu seinen Dienstorten legte er mit einem Motorrad zurück.
Schon seit 1933 waren vielerorts jüdische Schüler vom Besuch öffentlicher Schulen ausgeschlossen worden. Aufgrund zunehmender Diffamierung und teilweise sogar tätlicher Übergriffe wurde die Situation für jüdische Kinder immer unerträglicher. Daher kam es schon vor dem allgemeinen Ausschluss jüdischer Schüler aus öffentlichen Schulen, der am 15. November 1938 von den Nazi-Behörden verfügt wurde, zur Gründung von jüdischen Privatschulen.
Eine derartige Schule nahm auch in Gerolzhofen am 3. November 1938 ihren Betrieb auf. Ein großes Zimmer im Anwesen Lichtenauer in der Bahnhofstraße war behelfsmäßig zum Schulraum umgestaltet. Als Lehrer für die rund zehn jüdischen Kinder aus Gerolzhofen und Umgebung stellte sich Grünebaum zur Verfügung.
Der Mob zerstörte das Wohnhaus und die Synagoge

Beim Pogrom im November 1938 – früher als "Reichskristallnacht" bekannt, obwohl die Ausschreitungen auf dem Lande überwiegend bei hellem Tage am 10. November vor aller Augen stattfanden – waren die Synagogen die Hauptziele des nationalsozialistischen Mobs. In Prichsenstadt war die Brandstiftung durch den damaligen Bürgermeister verhindert worden, weil man das Übergreifen des Feuers auf benachbarte Gebäude befürchten musste.
Was aber niemand verhindert hatte, war die Demolierung der Inneneinrichtung, die Vernichtung der Ritualien und Thorarollen und die Verwüstung der Wohnung der Familie Grünebaum: Die Fenster wurden eingeschlagen, die Möbel zerstört, Federbetten aufgeschlitzt und aus dem Fenster geschüttet, Lebensmittelvorräte mutwillig vernichtet.
Die Rückkehr nach Prichsenstadt war unmöglich

An diesem Tag nahmen SA-Leute in Gerolzhofen Grünebaum in der erst seit einer Woche bestehenden jüdischen Privatschule fest und brachten ihn in das Amtsgerichtsgefängnis der Stadt. Zu dieser Zeit waren auch Alfreds Eltern Wolf und Amalie Grünebaum zu Besuch in Prichsenstadt. Wolf Grünebaum wurde am 11. November verhaftet und ebenfalls in das Amtsgerichtsgefängnis Gerolzhofen eingeliefert, aber nach einigen Tagen wieder entlassen.
Alfred Grünebaum kam am 26. November 1938 von Gerolzhofen, zusammen mit Berthold Frank aus Prichsenstadt und Ludwig Traubel aus Altenschönbach, in das Polizeigefängnis nach Würzburg. Von dort aus erfolgte zwei Tage später der Weitertransport in das KZ Dachau, in dem inzwischen etwa 10 000 jüdische "Aktionshäftlinge" untergebracht waren, die man beim Novemberpogrom festgenommen hatte. Grünebaum wurde am 3. Januar 1939 entlassen und fuhr von dort aus zunächst zu seiner Familie nach Obbach, wo seine Frau inzwischen mit ihrem Sohn bei ihren Eltern untergekommen war.
Ende Januar 1939 kam Alfred Grünebaum zurück nach Prichsenstadt, um nach den Überbleibseln seiner Wohnungseinrichtung zu sehen. An eine dauerhafte Rückkehr war jedoch nicht zu denken, nicht zuletzt wegen massiver Anfeindungen durch nationalsozialistisch eingestellte Stadtbewohner. Grünebaum meldete sich und seine Familie am 25. Januar 1939 in Prichsenstadt ab und zog mit ihr Anfang Februar nach Würzburg. Dort unterrichtete er an der jüdischen Volksschule und bereitete die Emigration in die USA vor.
Amerikanischer Verwandter bürgte fürs Visum
Glücklicherweise gab ein Verwandter die für das Visum erforderliche Bürgschaft. Nachdem das Visum vom Generalkonsulat der USA in Stuttgart erteilt wurde, machte sich Grünebaum an die Organisation der Flucht, für die es nur noch die Möglichkeit gab, über Spanien nach Portugal zu gelangen und von Lissabon aus mit einem Schiff in die USA zu fahren.
Grünebaum verließ Würzburg mit Frau und Kind am 6. September 1940, fuhr nach Berlin und hatte das Glück, Tickets für einen Lufthansa-Flug von Berlin nach Madrid zu bekommen. Von Madrid aus schlug die Familie sich nach Portugal durch und konnte Plätze auf der "MS Exeter" ergattern, die am 11. September 1940 von Lissabon nach New York abfuhr. Neun Tage später kam das Schiff in den USA an; die Familie gelangte kurz darauf nach Indianapolis im Bundesstaat Indiana.
Dort verdiente Grünebaum seinen Lebensunterhalt zunächst als Angestellter, doch bald darauf stieg er als Teilhaber in ein Haushaltswarengeschäft ein. Nachdem die Firma eine Filiale in Memphis/Tennessee eröffnet hatte, zog die Familie Grünebaum, die sich in den USA nun einfach Gruen nannte, dorthin um. Sowohl in Indianapolis als auch später in Memphis pflegte Alfred Gruen erfolgreich seine Schachleidenschaft: Er wurde mehrmals Stadtmeister und 1951 sogar Meister im Bundesstaat Indiana.
Die Großeltern überlebten den Holocaust nicht

In Indianapolis kamen noch zwei weitere Kinder von Alfred und Irma Gruen zur Welt: Gordon Gruen am 30. Juli 1941 und Sylvia Ann Gruen am 15. August 1949. Beide sind, im Gegensatz zum ältesten Sohn Joachim "Joe" Gruen, der 2017 mit 80 Jahren in Florida starb, noch am Leben. Gordon Gruen wohnt in Florida, Sylvia Gruen (verheiratete Salomon) in Nashville/Tennessee. Alfred Gruen starb in Memphis am 28. Mai 2007 mit 97 Jahren. Seine Frau Irma folgte ihm am 10. Mai 2011 im Alter von 98 Jahren. Beide sind dort beerdigt.
Ihre Kinder Gordon und Sylvia haben ihre Großeltern nie kennengelernt. Wolf und Amalie Grünebaum wurden am 4. April 1942 von Regensburg aus nach Piaski bei Lublin in Ostpolen deportiert und dort in einem Transitghetto oder in einem der nahegelegenen Vernichtungslager ermordet. Emil und Sophie Schlorch deportierten die Nazis am 25. April 1942 von Würzburg aus nach Krasnystaw, ebenfalls nahe Lublin gelegen. Auch sie haben den Holocaust nicht überlebt.

Lesen Sie auch die anderen Folgen unserer Artikel-Serie:
- Juden im Landkreis Kitzingen: Tapferer Schneider hält zu seiner jüdischen Frau
- Juden im Landkreis Kitzingen: Die Lügen der Nazis über Familie Ackermann
- Juden im Landkreis Kitzingen: Emigration oder Ermordung
- Juden im Landkreis Kitzingen: Die Leiden der Familie Schwarz
- Juden im Landkreis Kitzingen: Die Flucht der Familie Fleischmann
- Juden im Landkreis Kitzingen: Spuren eines großen Whiskey-Produzenten
- 1700 Jahre Juden in Deutschland: Schicksale im Landkreis Kitzingen