Wolfgang Hülle stammt aus Kitzingen. Nach der Schule und dem Studium in Würzburg begann er bei der bayerischen Justiz als Richter am Amtsgericht Kulmbach. Im März 1996 trat er seinen Dienst am Amtsgericht Kitzingen als Jugendrichter an. Er betreute in der Anfangszeit verschiedene Referate und sammelte so auch im Erwachsenenstrafrecht, als Zivilrichter und bei den Bußgeldverfahren viel Erfahrung. Ein Gespräch über Verfahren gestern und heute, Einwanderungswellen und die Zeit im Ruhestand.
Die Entscheidung, Jugendrichter zu werden...
Wolfgang Hülle: ...hing damit zusammen, dass ich in Kitzingen die Möglichkeit hatte, das Referat zu übernehmen. Ich habe das gerne gemacht, weil man im Jugendbereich etwas bewirken kann. Zwischenzeitlich gab es natürlich Überlegungen, ob es Sinn macht, als älterer Richter die Jugendlichen beeinflussen zu wollen. Aber ich hatte bis zuletzt das Gefühl: Das geht. Am Ende waren es 28 Jahre.
Was genau ist der Unterschied zwischen einem Jugendrichter und einem Strafrichter?
Hülle: Im Jugendbereich sind die Eltern mit eingebunden, ebenso die Jugendgerichtshilfe. Deshalb ist das Verfahren umfangreicher, genau wie die Hauptverhandlung. Mein Credo war immer: Man muss sich Zeit lassen für die Jugendlichen. Bei Erwachsenenstrafrecht geht es oft ruckzuck. Ich habe mich bei den Jugendlichen immer bemüht, es so rüberzubringen, dass sie wissen, worum es geht. Und dass sie verstehen, warum sie verurteilt werden.

Unterschiede gibt es auch im Strafmaß.
Hülle: Im Erwachsenenbereich gibt es nur Geldstrafe oder Freiheitsstrafe. Der Jugendbereich kennt viele Sanktionen. Das fängt mit milden Maßnahmen wie Verwarnungen an. Danach kommen Auflagen, Weisungen, Geldauflagen oder soziale Hilfsdienste. Dann gibt es die Arreste – vom Freizeitarrest übers Wochenende bis zu vier Wochen Dauerarrest. Und wenn alles nichts hilft, kommt die Jugendstrafe ins Spiel, also Haft in der Jugendstrafvollzugsanstalt. Der Jugendrichter kann sogar Weisungen erfinden. Ich habe mitunter die Angeklagten Aufsätze schreiben lassen. Als Jugendrichter kann ich im Urteil auch Entschuldigungsbriefe verfügen.
Aufsätze schreiben – das funktioniert?
Hülle: In ein paar Fällen war das gar nicht schlecht. In Zusammenarbeit mit der Jugendgerichtshilfe kam etwas Positives raus.
Sind Jugendliche heute anders als in Ihren Anfangsjahren?
Hülle: Gravierende Unterschiede gibt es nicht. Verändert hat sich eher etwas bei den Straftaten. Vor 28 Jahren stand Fahren ohne Fahrerlaubnis im Mittelpunkt, auch Diebstähle. Dann kam eine Welle mit Körperverletzungen. Zuletzt spielten das Internet oder auch pornografische Bilder auf dem Handy eine größere Rolle. In etwa gleich geblieben ist die Zahl der Straftaten.
Aber treten Jugendliche heute vor Gericht nicht anders auf?
Hülle: Das schon. Früher waren Jugendliche leichter zu beeindrucken und zu beeinflussen. In der Sitzung haben sich die meisten ruhig verhalten und mitgemacht. Heute findet man vermehrt Jugendliche, die das alles nicht interessiert. Die meinen, sie sind im Kino und schauen sich die Veranstaltung einfach mal an.
Wie schnell reagiert der Gesetzgeber auf die neuen Arten von Straftaten – Stichwort Internet? Anders gefragt: Wie bestraft man 100 Pornobilder auf dem Handy?
Hülle: Es ist ja so, dass erst die Straftat da ist und der Gesetzgeber reagieren muss. Es gibt immer eine Verzögerung. Als Richter hat man aber ein Ermessen und kann die Bestrafung dem Jugendlichen und der Tat anpassen. Wobei schon auffällt, dass der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren Gesetze beschlossen hat, die mitunter nicht wohlüberlegt waren. Da musste zum Teil zurückgerudert werden. Das macht uns viel Arbeit, ist ärgerlich, und man wird in gewisser Weise unglaubwürdig.
Ein Beispiel?
Hülle: Als die kinderpornografischen Bilder auf dem Handy aufkamen, war der Straftatbestand noch sehr locker gefasst. Es gab reihenweise Einstellungen und wurde als nicht schwerwiegend angesehen. Später kam man zu dem Schluss: Das muss man massiv unter Strafe stellen. Es wurde zum Verbrechenstatbestand gemacht, weshalb vor dem Jugendschöffengericht angeklagt wurde. Es musste ein Pflichtverteidiger bestellt werden. Vor kurzem wurde nun wieder zurückgerudert: Aus dem Verbrechenstatbestand wurde ein Vergehen.
Eine gängige Meinung lautet: Jugendliche sind heute erwachsener als früher. Ist der 14-Jährige von heute der 16-Jährige von früher?
Hülle: Die Kinder werden immer reifer. Ich würde aber nicht sagen, dass der heute 14-Jährige dem 16-Jährigen von früher gleich steht. Auf keinen Fall sollte man die Unter-14-Jährigen strafrechtlich verfolgen. Strafmündigkeit mit 14 – das ist genau richtig. Natürlich gibt es immer Einzelfälle. Und es gab es auch schon immer Intensivtäter. Aber für die Masse ist alles richtig so. Nehmen wir die Heranwachsenden, also 18 bis 21. Da hat man kaum einen, der so reif ist wie ein Erwachsener.
Wobei das ein strittiges Thema ist: Mit 16 einerseits wählen dürfen und den bis 21-Jährigen vor Gericht fast ausschließlich Reifedefizite bescheinigen und nach Jugendstrafrecht verurteilen – nicht ganz logisch oder?
Hülle: Die Frage ist, wie man Reifedefizite ansetzt und bewertet. Hier hilft die Jugendgerichtshilfe bei der Beurteilung: Wer etwa in der Schule auffällig war und die Ausbildung mehrfach abgebrochen hat und die Füße oft noch nicht im Leben hat – bei dem ist es richtig, ihn auch als 20-Jährigen wie einen Jugendlichen zu behandeln. Dass überwiegend Jugendrecht auf die bis 21-Jährigen angewendet wird, ist ein Weg, den der Bundesgerichtshof und die Obergerichte eingeschlagen haben. Wenn ein Jugendrichter konsequent Erwachsenenstrafrecht anwenden würde, würden die Urteile deshalb auffliegen.
Ein Satz zur Jugendgerichtshilfe – was versteht man darunter?
Hülle: In Bayern ist die Jugendgerichtshilfe an den Landratsämtern angesiedelt, hier in Kitzingen beim Allgemeinen sozialen Dienst. Die Jugendgerichtshilfe lädt die Jugendlichen und die gesetzlichen Vertreter vor, um einen Lebenslauf und Entwicklungsbericht für das Gericht zu erstellen. Es wird auch ein Ahndungsvorschlag abgegeben – und ob bei Heranwachsenden Jugendstrafrecht zur Anwendung kommen soll.
Also so etwas wie Ihre rechte Hand?
Hülle: Eine Hilfe, die vom Gesetz her vorgesehen ist und die man als Jugendrichter sehr gerne nutzt. In der Regel sind es Sozialpädagogen, die von der Sachkunde her nah dran und entsprechend geschult sind. Natürlich neigen Sozialarbeiter auch dazu, die Jugendlichen in Schutz zu nehmen, deshalb habe ich auch nicht alle Vorschläge übernommen.
"Inzwischen sind die meisten Angeklagten familiär auffällig."
Wolfgang Hülle über seine Klientel vor Gericht
Es gab mehrere Einwanderungswellen – von Russlanddeutschen bis zu unbegleiteten Flüchtlingen. Wie hat sich das beim Jugendgericht bemerkbar gemacht?
Hülle: Es gab immer wieder verschiedene Phasen. In den 2000er-Jahren saßen Russlanddeutsche gehäuft vor mir, da machte sich ein anderer Kulturkreis bemerkbar. Gleiches gilt für die Flüchtlinge, die in den vergangenen Jahren kamen. Da werden Körperverletzungen teilweise anders bewertet als bei uns. Aber es ist nicht so, dass das überhand genommen hätte.
Lässt sich berechnen, wie viele Angeklagte in 28 Jahren vor Ihnen saßen?
Hülle: Überschlagsweise gibt es am Amtsgericht Kitzingen pro Jahr zwischen 120 und 150 Jugendrichtersachen. Hochgerechnet landet man also irgendwo zwischen 3000 und 4000 Verhandlungen. Im Vergleich zu Bußgeldverfahren ist das aber eine geringe Zahl.
Interessant ist, dass die Zahl mit 120 bis 150 doch relativ konstant war in den vielen Jahren...
Hülle: Ja, es gibt bei der Anzahl der Verfahren keine gravierenden Veränderungen. Eine interessante Erkenntnis.
Welche Jahrgänge sitzen aktuell vor Ihnen?
Hülle: Überwiegend die Geburtsjahrgänge zwischen 2003 und 2010.
Ihr spektakulärster Fall?
Hülle: Den gab es so nicht. Ich kann mich an einige aufgeblähte Verfahren mit mehreren Angeklagten erinnern, die sieben oder acht Tage gedauert haben.
Worum dreht es sich bei dem überwiegenden Teil der Verfahren?
Hülle: Eine solche Statistik habe ich nie gemacht. Oft geht es um Betäubungsmittel-Delikte, Körperverletzungen und Diebstähle.
Hat sich bei der Mitarbeit der Eltern bei den Verfahren etwas geändert? Sind die Eltern so hinterher, wie das vermeintlich mal war?
Hülle: Es gibt noch Verfahren, bei denen beide Eltern dabei sind, die sich auch einen Kopf machen und fast heulen. Inzwischen sind die meisten Angeklagten aber familiär auffällig. Es gibt viele Probleme: von alleinerziehend bis zur Gewalt in der Familie. Das merkt man den Jugendlichen an. Bei manchen Fällen ist gar kein Elternteil mehr dabei, weil es sie scheinbar nicht interessiert. Oder es sind Elternteile da, die meinen, ihr Kind vor allem schützen zu müssen und der Richter macht Blödsinn. Aber das hat es früher schon gegeben.
Wenn Sie als altgedienter Richter einen Wunsch frei hätten – was würden Sie umgehend ändern?
Hülle: Im Jugendbereich eher nichts. Was mir aufstößt, sind die Bußgeldverfahren. Die nehmen viel Zeit und Kraft in Anspruch. Zehn-Euro-Parkverstöße sollte man der Justiz nicht zumuten.
Wann geht es offiziell in den Ruhestand – und was passiert dann?
Hülle: Am 1. Dezember ist es so weit. Dann kommen Freizeit, Familie und Hobby. Ich habe nicht vor, mich juristisch weiter zu betätigen. Mein Hobby, das Modellfliegen, ist in den vergangenen Jahren viel zu kurz gekommen. Früher waren wir oft mit dem VW-Bus unterwegs, bis der kaputtgegangen ist. Vielleicht läuft es künftig wieder auf ein keines Wohnmobil hinaus.