Wäre da nicht die geschwärzte Adresse gewesen, wer weiß, ob der Brief nicht auch in fremde Hände gelangt wäre. Fast die komplette Briefmarkensammlung des Vaters ist verkauft worden. Doch dann entdeckte Arno Müller dieses eine Kuvert, in ein Album eingeklebt. Der geschwärzte Absender und der Stempel „First Hindenburg Flight“, also der erste Transatlantik-Flug des Luftschiffs, erregten die Aufmerksamkeit des Wiesentheiders. Und nicht nur seine.
Nach einigen Monaten sind eine Restauratorin des Würzburger Kulturspeichers, Ärzte, Beamte der Kriminalpolizei, die mit einem US-Amerikaner verheiratete Nachbarin und eine Archiv-Mitarbeiterin des Zeppelin-Museums in Friedrichshafen in den Fall, wenn man es denn so nennen mag, verwickelt.
Doch der Reihe nach: Abgeschickt hatte den Brief Ottmar Will, wohl ein Schulkollege von Arno Müllers Vater Ludwig, der 1904 in Heustreu (Landkreis Rhön-Grabfeld) geboren ist. Will, Jahrgang 1906, war nach seiner Banklehre Mitte der 1920er-Jahre in die USA ausgewandert – und scheint bei der Bank Karriere gemacht zu haben. Von dort aus hatte er die Möglichkeit, Geschäftspost mit der Hindenburg zu verschicken. So gelangte der Brief, laut Stempel am 11. Mai 1936 losgeschickt, auf dem Rückweg der ersten Fahrt des Zeppelins von Frankfurt am Main nach New York schließlich nach Unsleben, Ludwig Müllers Wohnort in der Rhön.
Fast 80 Jahre später nimmt Arno Müller, Seniorchef der Fränkischen Toskana in Wiesentheid, das Kuvert behutsam aus einer Mappe. Zuvor streift er sich Plastikhandschuhe über, um das wertvolle Dokument zu schonen. Im Sommer vergangenen Jahres begann er, die Geschichte hinter dem Brief, dessen Inhalt leider nicht mehr erhalten ist, zu erforschen.
Erste Anlaufstelle war Ines Franke, Restauratorin des Würzburger Kulturspeichers. Die wimmelt den Gärtnermeister, der bald 75 Jahre alt wird, erst einmal ab. Doch da unterschätzt sie Müllers Hartnäckigkeit. „Ganz oder gar nicht“ galt für ihn nicht nur im Beruf, auch bei der Ahnenforschung gibt er jetzt 100 Prozent.
„Ich bin fest davon überzeugt, dass es da Leute gibt, die noch was wissen.“
Arno Müller
Schließlich hilft ihm Franke in ihrer Freizeit, das Kuvert vom Album zu trennen und den Kleber zu entfernen. Das Rätsel des ursprünglichen Absenders können aber weder sie noch die Ärzte in Gerolzhofen und an der Uni-Klinik lösen, die Arno Müller anruft und fragt, ob sich die verdeckte Schrift nicht per Röntgenstrahlung entziffern ließe. Dafür braucht es andere Technik. Solche, wie sie das Landeskriminalamt in München zur Verfügung hat. Ein Kripo-Beamter aus der Nachbarschaft gibt den Brief an einen Kollegen in München weiter, der, wiederum in seiner Freizeit, die Schrift sichtbar macht.
Unter dem schwarzen Balken verbarg sich die Adresse einer großen New Yorker Bank: Carl M. Loeb & Co., 61 Broadway, in bester Lage also. Mithilfe der Info über den Arbeitgeber – und der Internetrecherche und Übersetzungskünste seiner Nachbarin Anna Motz – findet Müller sogar heraus, wo in den USA der Briefeschreiber Ottmar und seine Frau Emmy Will wohnten. Die ebenfalls entdeckten Kuverts, die den Briefwechsel zwischen Arno Müllers Mutter Lina und Emmy Will belegen, weisen indes eine neue Adresse nördlich von New York aus. „Rund 100 000 Dollar muss der damals im Jahr verdient haben“, weiß der Wiesentheider. Um das Jahr 1935 war das Haus noch da, später stand an der gleichen Stelle ein Supermarkt.
Und heute? Hält Arno Müller die Telefonnummer vom dortigen „Emmy Wills German Beer Lokal“ in der Hand. Noch hat er dort niemanden erreicht. Aber „dann probiere ich es einfach nachts“, sagt der Rentner. Seine Frau Ursula lacht – sie hat er mit seiner Begeisterung schon längst angesteckt.
Beide wissen inzwischen, dass die Wills einen Sohn namens Gerald hatten, der auch um die 75 Jahre alt sein müsste. Ihn möchte Arno Müller finden – vielleicht kann der die Fragen beantworten, die Müller seiner Mutter Lina, die erst vor sieben Jahren starb, nie gestellt hat. Hat Gerald Will Kinder? Was weiß er über die transatlantische Freundschaft der beiden Paare? Welche Verbindungen lassen sich heute noch entdecken?
Für den Vater von zwei Söhnen und Opa von vier Enkeln führt eine Spur in die Rhöner Heimat seines Vaters, der 1979 nach Wiesentheid gezogen ist und sich dort mit der Gärtnerei selbstständig gemacht hat. „Ich bin fest davon überzeugt, dass es da Leute gibt, die noch was wissen.“ Seine in Heustreu lebende Cousine Helga Wilkes konnte ihm nichts sagen. Kleiner Fortschritt: Fotos von einem Besuch der Wills 1954 sind aufgetaucht.
Die Suche geht also weiter – aufgeben ist für Müller keine Option. Der 74-Jährige hofft auf Anrufe aus der Rhön, um Ottmar Wills Geburtsort zu erfahren, der ihm dann bei einem Blick in die Auswanderer-Liste von Hapag Lloyd helfen würde. Und ein Besuch des Zeppelin-Museums in Friedrichshafen ist noch im Juni geplant. Die dortige Volontärin im Archiv, Janne Preuß, freut sich schon darauf, das mit der Hindenburg transportierte Kuvert selbst in Augenschein nehmen zu können. Ihr geht es wie Arno Müller zu Beginn seiner Suche: „Interessant ist auf jeden Fall, dass die Adresse geschwärzt wurde.“
Kontakt: Arno Müller, Tel. (0 93 83) 90 15 99
Die Hindenburg
Erstfahrt 1936: Das Luftschiff mit dem Namen des verstorbenen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg machte seine erste Fahrt am 4. März 1936. Die Hindenburg war 245 Meter lang und hatte 41,2 Meter Durchmesser an der größten Stelle.
Propaganda: Die Nationalsozialisten nutzten das Luftschiff für ihre Zwecke, warfen Flugblätter ab und ließen es bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele 1936 das Olympia-Stadion in Berlin überqueren.
Transatlantisch: Ab Mai nahm die Hindenburg den regelmäßigen Nordatlantikdienst mit Passagieren, Post und Fracht zwischen dem Flug- und Luftschiffhafen Frankfurt Rhein-Main und Lakehurst nahe New York auf. Die erste Fahrt dorthin startete am 6. Mai 1936, dafür benötigte die Hindenburg rund 60 Stunden.
Katastrophe: Ein Jahr später, am 6. Mai 1937 geriet sie bei der Landung in Lakehurst in Brand und wurde zerstört. Von den 97 Menschen an Bord (36 Passagiere und 61 Besatzungsmitglieder) kamen 35 ums Leben, plus ein Opfer der amerikanischen Bodenmannschaft. Quelle: Archiv der Luftschiffbau