Biggi ist verliebt. So sehr, dass sich sogar die Baumkronen zu drehen beginnen. Es war an der Zeit. Und er war so unglaublich süß, dieser Joe. Mit den schönsten Augen der Welt und dem auffälligen No-1-T-Shirt. Für Biggi war es das erste Mal. Für ihn, das stellte sich später heraus, war Biggi nur eine von vielen. Weshalb aus Liebe Schmerz wurde. Und noch etwas stellte sich heraus: Biggi hatte sich infiziert. Mit HIV. Weshalb aus Schmerz Angst wurde.
So weit der Versuch einer Kurzzusammenfassung von „Biggis No. 1“. Volkmar Röhrig hat das Buch unterm Arm mitgebracht zu den Achtklässlern der Buchbrunner Grundschule. Geschrieben hat er das Buch vor 13 Jahren. Nach diesem unfassbaren Bericht im Fernsehen. Darin hatte es geheißen, dass eines Tages wegen Aids ganze Länder in Afrika wie ausgestorben sein werden. Das hinterließ Wirkung bei dem Kinder- und Jugendbuchautor aus Mainstockheim.
„Wir legen Euch Parks an – und was macht Ihr? Ihr latscht über den Rasen.“
Volkmar Röhrig über ein „furchtbar spannendes Alter“
Volkmar Röhrig begann zu recherchieren. Trug Zahlen und Fakten zusammen. Fragte Behörden wie dem Gesundheitsamt Löcher in den Bauch. Wollte wissen, was der Unterschied zwischen HIV positiv und Aids ist. Und er traf sich mit Betroffenen. Darunter eine junge, aidskranke Frau. Nach einem kurzen Beschnuppern willigte sie ein, dem Fremden ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Wobei es in diesem Fall ganz sicher richtiger wäre, von einer Leidensgeschichte zu sprechen.
Am Ende kam ein Buch heraus, das neben einem Kondom als Lesezeichen-Überraschungsbeigabe vor allem eines auszeichnet: Es nennt die Dinge offen und schonungslos beim Namen. Das Buch steht damit seinem Autor in nichts nach. Verklemmt sein oder Herumeiern können andere – Volkmar Röhrig bevorzugt den direkten Weg. In die Fassungslosigkeit geht es direkt über eine Einbahnstraße.
Das ist genau der Grund, weshalb die erste Schulstunde an diesem Morgen in Buchbrunn vorbei geht, ohne dass Volkmar Röhrig auch nur eine Zeile gelesen hätte. Dafür wird viel geredet: über „ein furchtbar spannendes Alter“. Über „wackelnde Hintern“. Und über die „Erotik in der Rübe“. Natürlich auch über Afrika. Das plötzlich gar nicht so weit weg ist. Das vielleicht sogar gleich hinter der nächsten Ecke lauert. Auch hier, in Buchbrunn. Laut der Anzeige „Gib Aids keine Chance“ fühlen sich über ein Drittel der Menschen in Deutschland nicht ausreichend über sexuell übertragbare Krankheiten informiert. Hinter der Kampagne steht eine einfache Botschaft: mach's mit. Ebenso einfach ist die Internet-Adresse: www.machsmit.de
Mit der Jugend, so das Klagelied der Erwachsenen, ist es nicht immer ganz einfach. Oder, um es mit Volkmar Röhrig zu sagen: „Wir legen Euch Parks an mit Wegen und Bänken. Und was macht Ihr? Ihr latscht über den Rasen!“ Was allein schon deshalb witzig klingt, weil es aus dem Mund von einem kommt, der selber nur äußerst schwer auf einer Parkbank vorstellbar ist. Volkmar Röhrig gehört ganz klar zur Gattung der Rasenlatscher. Ausgetretene Wege sind seine Sache nicht.
Vielleicht ist das sein Geheimnis, Schulstunden wie im Flug vergehen zu lassen. Dass es irgendwann zur Pause läutet – es schert sich niemand darum. Das Mach's-mit-Thema nimmt gefangen. Der da vorne auf dem Lehrerpult sitzt und seine Beine baumeln lässt, trifft den richtigen Ton. Reißt mit. Nichts ist peinlich in diesem Moment – außer wenn man nicht darüber reden würde. Fragen tauchen auf, wie sie Rasenlatscher nur Rasenlatschern stellen können. Niemals aber Parkbanksitzern. „Biggi, ich kenne diese Karte. Die werden an Blutspender verschickt, wenn mit deren Blut etwas nicht in Ordnung ist.“ – „Was soll denn bei Joe nicht stimmen?“ – „Was weiß ich? Es kann alles Mögliche und überhaupt nichts sein. Vielleicht eine Hepatitis. Oder was anderes . . . “, sie sah an mir vorbei, „ . . . ja, zum Beispiel auch HIV!“ (aus: Biggis No. 1).
Zeit für eine ganz persönliche Pisa-Studie: Alles mal die Hände hoch – wer liest gerade ein Buch? Der Test fällt frustrierend aus. Sieben von 50 Schülern melden sich. Aber es besteht Hoffnung. Weil sich die Quote nach der ungewöhnlichen Aids-Doppelstunde – vorsichtig geschätzt – verdoppeln dürfte. Was daran liegt, dass der engagierte Besucher ein Exemplar von „Biggis No. 1“ dalässt – sozusagen als Entwicklungshilfe für die sehr überschaubare Schulbücherei.
Zudem gab es Buchtipps wie diesen: „Mozarts Liebesbriefe müsst ihr gelesen haben – die sind rattenscharf!“ Vor allem aber dürfte die Leselust dadurch gesteigert worden sein, dass die Schüler jetzt eines ganz genau wissen: Rasenlatscher-Bücher machen da weiter, wo Filme im Zweifelsfall aufhören.
Die Botschaft ist klar: „Jeder kann in eine solche Geschichte rauschen.“ Eine Geschichte, wie sie Hedi erlebt hat. Hedi ist die junge Frau, die Volkmar Röhrig ihre Lebens- und Leidensgeschichte erzählt hat. Bei ihr war es ein Quickie. Ein verdammter Quickie. Ein Open-Air-Konzert. Ein Engländer. Unglaublich süß, versteht sich. Mit den schönsten Augen der Welt, auch klar.
Biggi in der Fantasie, Hedi in der Realität – Aids bekommt ein Gesicht. „Für das Thema sensibilisieren“, wird Volkmar später auf dem Heimweg sagen. Und er erzählt, wie sehr ihn das Thema entsetzt hat, je mehr er sich damit beschäftigte. Ganz zu schweigen von der Sprachlosigkeit, die sich gerne wie ein Schleier – trotz aller vermeintlichen Aufgeklärtheit – über die Todeskrankheit legt (siehe auch das Interview auf dieser Seite: „Aids als Tabuthema“). Dieses Entsetzen erklärt auch, warum Volkmar Röhrig einer ist, der in der Doppelstunde bis zum Anschlag geht und etwas einbringt, das immer seltener wird: Herzblut.
Als die Schüler in die verspätete Pause gehen, gibt es viel zu bereden. Über diese vermaledeite Krankheit. Wie schnell es doch gehen kann. Dass Afrika um die Ecke ist. Über Liebe, die zu Schmerz wird. Und Schmerz, der zu Angst wird. Und darüber, wer den Neuzugang in der Schulbibliothek als Erster lesen darf.
Infos
Das Buch: Biggis No. 1 , C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, 224 Seiten, 5,95 Euro.
Der Autor: Volkmar Röhrig, geboren 1952 bei Leipzig, lebt in Mainstockheim. Mit acht Jahren schrieb er seine erste Kurzgeschichte. Nach seinem Germanistik-Studium arbeitete er als Regieassistent, bevor er sich für ein Leben als freier Schriftsteller entschied. Er schreibt Kinder- und Jugendbücher, Hörspiele und betreibt eine PR-Agentur, die beispielsweise in Deutschland die World-Press-Ausstellung organisiert.
Kontakt: Per Mail ist Volkmar Röhrig zu erreichen unter volkmar@roehrig-buecher.de, Tel. (0 93 21) 2 32 04.