Was Joseph Oertel erlebt, geht an die Substanz. Hilfsorganisationen wie Sea-Watch, für die er ehrenamtlich Aufklärungs- und Rettungsflüge absolviert, können nicht alle Schiffbrüchigen im Mittelmeer retten. Der 25-Jährige, der aus Castell im Landkreis Kitzingen stammt und auf den Flugplätzen Kitzingen und Giebelstadt seine Pilotenscheine gemacht hat, berichtet von Tagen wie jenem im Juni 2024.
Da habe seine Crew an verschiedenen Stellen des Mittelmeers elf Menschen leblos im Wasser entdeckt, sagt Joseph Oertel. "Keine Behörde wusste von einem Schiffbruch. Solche Menschen tauchen in keiner Statistik auf."

Die gemeinnützige Initiative Sea-Watch, die sich aus Spenden finanziert, hat sich der zivilen Seenotrettung im zentralen Mittelmeer verschrieben. Oertel, der Politics, Administration & International Relations studiert hat und jetzt ein Medizinstudium in Leipzig und Freiburg macht, fliegt für Sea-Watch regelmäßig Hilfseinsätze. Von der Studienstiftung des deutschen Volkes erhält der 25-Jährigen deshalb in diesem Jahr den mit 5000 Euro dotierten Ehrenamtspreis - für seinen "Mut und Einsatz, mit dem er auf drängende Menschenrechtsthemen aufmerksam macht".
Im Interview schildert der Student aus Castell, was er bei seinen Einsätzen erlebt und den Regierungen vorwirft.

Versuchen noch immer viele Menschen, in nicht seetauglichen Booten übers Mittelmeer zu fliehen?
Joseph Oertel: Ja. Das sogenannte UN Missing Migrant Project hat seit 2014 über 30.000 Tote oder Vermisste im Mittelmeer gezählt. Die Dunkelziffer ist viel größer, da es häufig keine Zeugen gibt, die das Sterben beobachten. Hinter den Zahlen stecken Menschen, die oft nicht älter sind als ich, mit ähnlichen Träumen und Hoffnungen. Regierungen schauen zunehmend weg und unterstützen libysche und tunesische Milizen, die für ihre Gewalt gegen Geflüchtete bekannt sind.
Vielleicht schauen die Regierungen weg, weil sie Angst vor den erstarkten Kräften von Rechts haben?
Oertel: Ich verstehe die Angst! Aber statt weiter nach rechts zu rücken und trotzdem von der AfD rechts überholt zu werden, könnten wir auch anfangen, ehrlicher über Migration zu sprechen. Es braucht nicht nur ein "Wir schaffen das", sondern auch eine Erklärung, warum wir das schaffen müssen und was das für unsere Gesellschaft bedeutet. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist vor dem Hintergrund der Gräueltaten des Holocaust entstanden. Die Rhetorik, mit der sich damals Politiker geweigert haben, Schiffe in ihren Ländern anlegen zu lassen und Menschen Schutz zu bieten, ist der heutigen Rhetorik gar nicht so unähnlich. Dieses Recht jetzt aus einer politischen Opportunität heraus aufzugeben, ist ein fundamentaler historischer Fehler. Dass die CSU/CDU zusammen mit der AfD jetzt für eine Abschottung Deutschlands gestimmt hat, finde ich beschämend.
"Statt weiter nach rechts zu rücken und dann trotzdem von der AfD rechts überholt zu werden, könnten wir auch anfangen, ehrlicher über Migration zu sprechen."
Joseph Oertel, Koordinator von Sea-Watch-Flügen
Was aber, wenn die Menschen genau das wollen?
Oertel: Seit Jahren profitieren Parteien und Social-Media-Algorithmen vom Spiel mit der Angst. Meine Antwort darauf ist, die Ängste ernstzunehmen, aber zu zeigen, dass es bessere Lösungen gibt als die der Populisten. Europa macht Profite mit Waffenexporten in Krisenregionen, trägt als einer der Hauptemittenten zum Klimawandel bei, ist an der Überfischung des Meeres von Küstenstaaten beteiligt und zwingt damit Menschen, ihre Heimatländer zu verlassen. Auf der Reise in die vermeintliche Sicherheit werden diese Menschen häufig in von Europa mitfinanzierten Lagern in Libyen inhaftiert, vergewaltigt, gefoltert. Die Gewalt gegen Geflüchtete ist viel größer als die Gewalt, die von Geflüchteten ausgeht.
Was ist mit dem finanziellen Aspekt?
Oertel: Ein Großteil der Geflüchteten zahlt nach einigen Jahren in Europa Steuern. Das Argument, dass wir uns gute Integration nicht leisten können, ist nur ein Scheinargument. Unser Rentensystem und große Teile der Infrastruktur würden ohne Einwanderung längst kollabieren. Ich frage mich: Wem nützt es eigentlich, dass die Politik die Ärmsten und Ausgegrenzten als Sündenböcke für unsere Probleme hinstellen? Während über Geflüchtete gehetzt wird, häufen die Reichsten unfassbare Vermögen an: In Deutschland besitzen laut Oxfam die fünf reichsten Menschen inzwischen mehr als 44 Prozent der Gesellschaft zusammen. Vielleicht sollten wir lieber über ihre Verantwortung für Armut und Ungerechtigkeit reden – anstatt nach unten zu treten.
Sie haben viel Zeit auf der Insel Lampedusa verbracht, von wo aus Sie die Einsätze fliegen. Wie reagieren die Einheimischen auf die vielen Flüchtlinge?
Oertel: Lampedusa ist eine von Fischerei geprägte Insel. Der Grundsatz, dass Menschen in Seenot geholfen werden muss, ist hier noch präsent. Die Leute setzen sich schon seit 20, 30 Jahren für Geflüchtete ein, ohne großen Rummel oder Spektakel. Ich erinnere mich an eine ältere Dame, die ihr reserviertes Grab für eine 18-Jährige abgegeben hat, die auf dem Meer gestorben ist – damit deren Familie einen Ort zum Trauern hat. Am ausländerfeindlichsten sind immer die Menschen, die am wenigsten mit Migration zu tun haben.
"Am ausländerfeindlichsten sind immer die Menschen, die am wenigsten mit Migration zu tun haben."
Joseph Oertel, Medizinstudent aus Castell
Was sind Ihre Aufgaben bei Sea-Watch?
Oertel: Wir dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und helfen Menschen auf der Flucht aus der Luft. Dafür fliegen wir abwechselnd mit zwei Flugzeugen und einer Besatzung von drei bis fünf Menschen übers Mittelmeer. Als "ziviles Auge" über dem Ozean beobachten wird das, was Europa versucht zu verstecken: die menschenrechtsverletzenden Praktiken von Frontex, libyschen Milizen und auch europäischen Staaten. Deshalb werden schon seit Jahren Versuche unternommen, uns zu kriminalisieren – mit dem Ziel, dass die Gewalt und das Sterben im Mittelmeer nicht mehr beobachtet und angeklagt werden können.
Das sind harte Anschuldigungen gegen Behörden und Politik. Sind sie belegbar?
Oertel: Ja. Viele investigative Recherchen, etwa des "Spiegel", haben belegt, dass es gemeinsame WhatsApp-Gruppen von libyschen Milizen und der EU-Grenzschutzagentur Frontex gibt, um Menschen daran zu hindern, Europa zu erreichen. Europa stellt den Milizen Schiffe, Gelder und Equipment zur Verfügung. Dabei schrecken die Milizen nicht davor zurück, auf die Boote zu schießen oder sie bei voller Geschwindigkeit zu rammen, um sie zu stoppen. Der Menschenhandel ist in Libyen mittlerweile ein äußerst lukrativer Sektor. Die Milizen haben großes Interesse an den Menschen, die ihnen auf dem Meer praktisch ohne jeden Schutz ausgeliefert sind.



Welche Beweise gibt es dafür?
Oertel: Die systematische und gewinnorientierte Folter in Libyen ist gut dokumentiert. Die deutsche Botschaft in Niger hat das Auswärtige Amt bereits 2017 darauf hingewiesen, dass in Libyen täglih "Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen" stattfinden. Es berichtete als Beispiel von einem Gefängnis mit exakt fünf Erschießungen jeden Freitag - um "Raum für Neuankömmlinge zu schaffen". Also um den "Durchsatz" und damit den Profit der Betreiber zu erhöhen. Auch wir haben oft beobachtet, dass Staaten mit unmarkierten paramilitärischen Schiffen Menschen daran gehindert haben, Europa zu erreichen. Aktuell klagen wir gegen die italienische Küstenwache wegen unterlassener Hilfeleistung im September 2024, durch die 21 Menschen ertranken.
Sind Sie nur in den Semesterferien im Einsatz?
Oertel: Nein. Anfang 2024 war ich fast jeden Monat auf Lampedusa. Gerade in den Klausurenphasen des Medizinstudiums ist das sehr stressig, aber ein bisschen profitiert mein Studium sogar davon. Denn über dem Mittelmeer lerne ich immer wieder, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

Durch Ihre Hilfe konnten viele Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden. Wie fühlt sich das an?
Oertel: Natürlich freue ich mich, wenn Menschen vorerst vor dem Ertrinken sicher sind. Aber ich spüre in dem Moment auch eine große Schwere. Die Leute, die auf Lampedusa ankommen, sind nach drei oder mehr Tagen auf See oft dehydriert und unterkühlt, manchmal sind tote Körper an Bord. Man merkt den Geflüchteten eine große Müdigkeit an und weiß, dass noch so viel auf sie zukommt. Selbst wenn sie irgendwann einen positiven Asylbescheid bekommen, sind sie in Europa viel Rassismus und Diskriminierung ausgesetzt. Auch die Arbeit von Sea-Watch wird häufig extrem polarisiert wahrgenommen. Einige kritisieren uns, andere sehen uns als Helden. Beides verfälscht jedoch den eigentlichen Kern unseres Engagements. Solidarisches Handeln sollte einfach normal sein.
Faktencheck: Die Redaktion hat Joseph Oertels Aussagen in Bezug auf die Flüchtlingslage in Nordafrika und im Mittelmeer sowie auf in Deutschland arbeitende Migranten geprüft. Sie decken sich mit Berichten von Spiegel, Human Rights Watch, UN-Report, Human Rights Council, dem Auswärtigen Amt, der Times, dem Global Detention Project und Berichten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) .

