"Da hilft nur noch Beten!" Das ist ein Wort, das ich in den letzten Monaten häufig hörte und jetzt vermehrt, seit dem vergangenen Sonntag, auch in den Medien. Dieser Meinung bin ich allerdings schon lange und eigentlich Zeit meines Lebens, seit meine Mutter uns Kindern erzählte, wie – als Missionarskind in Indien – ihr Spielfreund von einer giftigen Schlange gebissen wurde. Weit und breit – trotz Rufen und Schreien – hat niemand auf ihre Hilferufe reagiert. So hat sie einfach eine Tante "kopiert" und für diesen Freund gebetet, dass Gott ihr hilft, die Schlange wegzureißen, ohne dass sie getötet wird. Und: Es geschah also. Sie hat dies so selbstverständlich erzählt, dass ich es mir für mein Leben merkte. Gebet ist also etwas Selbstverständliches, etwas Lebenswertes für jeden.
"Da hilft nur noch Beten" – was heißt das eigentlich? Wo sitzt die Selbstverständlichkeit? Unser Leben ist ja von Grund auf Gebet. Gott hat uns alle ins Leben geliebt, nicht als Stolpersteine oder als kalte Felsbrocken oder als Hasspredigt auf einem Hindernislauf durch Raum und Zeit, sondern als Landeplatz für seine schöpferische Liebe. Er hat zunächst Pflanzen erschaffen, vielfältig und aufregend bunt, und dann die Tiere, vom Wurm an aufwärts zum Elefanten und zur Giraffe. Aber das alles reichte ihm noch nicht für seine überfließende Liebe, die sein Herz erfüllt und umstülpte. Da kam er auf die Idee, uns Menschen zu formen und zu erschaffen. Nicht als Krone der Schöpfung, sondern als Spielfeld seiner Zuwendung.
So wurden wir zu seinem Gebet. Das ist das Gebet Gottes: sein Handeln, sein Schaffen, sein Formen, sein Gestalten – und zwar zu seiner Freude und damit auch als gegenseitiger Aufsteller. Als Menschen sind wir gestaltetes Gebet Gottes.
Das heißt: Wir sind von Anfang an als seine Freunde und Freundinnen gedacht, die sich beschenken lassen, die in Offenheit seine Sehnsucht nach uns staunend wahrnehmen und ausleben, die immer noch mehr von ihm empfangen wollen, weil es uns und allen so guttut, die mit ihm lernen, wachsen und reifen wollen, um Erfolg zu haben, die gestalten lassen von Anfang an durch sein Wort, seine Berührung, seine Nähe und Ferne, seine Freude und seine Klage.
Gott spricht in seinem Beten nicht einfach mit sich und allen Engeln. Nein, er lebt Gebet, indem er unser Leben nach seinen Ideen, nach seinem inneren Bild gestaltet – so ganz Gott-ähnlich. Wenn wir also zu unserem Anfang aller Anfänge zurück träumen und ab und zu in den Spiegel schauen, entdecken wir unser Urbild: Gottes ausgeformtes Gebet, sein Ja zu uns, sein Friede und seine Gaben, seine Zukunft, seinen Mut zu einem sich ergänzenden Miteinander, einfach sein alles, ihn selber. Unser Leben ist immer Antwort auf Gottes Beten. Das heißt, sich seinem Angebot zu öffnen, unser Leben dieser Überfülle von Gaben und Möglichkeiten zu öffnen, es anreichern zu lassen mit allem, was ihm und mir lieb ist. Und zwar bis ins hohe Alter. Was für eine herrliche Idee Gottes.
Unser Verhängnis ist allerdings, dass wir uns so ungern lieben lassen, dass wir so ungern einfach Empfangende sind, dass wir unsere Bedürftigkeit anderweitig stillen, dass wir uns ihm so ungern öffnen. Wir machen lieber alles alleine; wir wollen das Sagen und Entscheiden im eigenen Griff haben. Wer will schon "nur" sehnsuchtsvoll Empfangende sein, Bittsteller, Danksager?
Und doch realisieren wir immer mehr, dass wir es nicht gebacken kriegen, Frieden zu schaffen ohne Waffen, die Schöpfung und das Klima einfach nicht so wollen wie wir, der Hunger sich ausweitet, die sinnlos Getöteten immer mehr werden, Hass und Streit aus Mangel an Liebe und Ansehen und Anerkennung immer härter werden. Es fehlt in allem die Alternative.
Wir suchen sie und finden sie nicht. Die einzig zukunftsfähige Alternative, das Angebot Gottes steht und bleibt nach wie vor: Sein Gebet. "Kommt doch zu mir, alle, die ihr in irgendeiner Weise bedürftig, einsam, krank, perspektivlos, angstvoll, am Ende eurer Möglichkeiten seid. Ich will euch neu aufrichten und aus- und einrichten. Und auf einen festen Grund stellen." "Kommt alle zu mir, die ihr einen Coach sucht, einen aufregenden Lebensstil, Sinnhaftigkeit und Freude." So kann jede und jeder neu zu sich stehen, braucht keine Konkurrenz mehr zu fürchten, vermag die Welt und die Natur in gottherzvollem Sinn mitzugestalten, Frieden zu entwickeln, Mut zur Freude zu gewinnen, eine einladende und lebenswerte Atmosphäre zu verbreiten. Das wäre doch was, oder nicht?
Die Autorin: Schwester Ruth Meili, geboren 1941 am Zürichsee, und ausgebildete Gymnasiallehrerin, trat 1971 in die evangelisch-benediktinische Ordensgemeinschaft Communität Casteller Ring ein. Nach einem Engagement in Schule und Internat auf dem Schwanberg gründete sie mit weiteren Schwestern eine Teestubenarbeit in München-Schwabing. 13 Jahre war sie nach der politischen Wende mit Mitschwestern am Augustinerkloster zu Erfurt. Seit 2010 sind alle Schwestern zurück auf dem Schwanberg in verschiedenen Arbeitsgebieten.