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MÜNCHEN: Ein Raum zum Dampfablassen

MÜNCHEN

Ein Raum zum Dampfablassen

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    Nachher: Wenn sich Kunden im "Wutraum" ausgetobt haben, ist die Einrichtung nur noch Sperrmüll.
    Nachher: Wenn sich Kunden im "Wutraum" ausgetobt haben, ist die Einrichtung nur noch Sperrmüll. Foto: tha shp (dpa)

    Los geht's! Zögerlich nehme ich den ersten Porzellanteller und werfe ihn zu Boden. Ein dumpfes Klirren ertönt. Ich erschrecke, als ich die Scherben sehe. Kaputt! Weiter, weiter, sage ich mir und hole mit dem Baseballschläger aus. Scheppernd zerschellt der nächste Teller. Aber: Darf ich das? Ist es in Ordnung, diesen hübsch gedeckten Tisch zu zerstören, der wirkt wie Omas Kaffeetafel? Weg mit dem Gedanken! Wie war das vorhin mit dem Idioten, der sich beim Bäcker vorgedrängelt hat? Diesmal trifft es ein Bierglas, Splitter fliegen durch den Raum. Und die verspiegelte Schrankwand kriegt auch eins drauf. Wie das klirrt! Sieht interessant aus, dieser glitzernde Scherbenhaufen. Das Ganze fängt an, mir Spaß zu machen.

    Im Münchner „Wutraum“ ist etwas erlaubt, was sonst strikt verboten ist: alles kurz und klein zu schlagen. Hartmut Mersch hat dazu in einem Hinterhof in Pasing zwei Räume angemietet, die er als Wohnzimmer, Büro oder nach Vorstellungen des Kunden einrichtet. Ab 139 Euro darf man einen Raum verwüsten. Dazu verleiht Mersch Baseballschläger und Vorschlaghammer – wer mag, kann eigenes Werkzeug mitbringen. Die Idee stammt aus den USA, das Konzept ist inzwischen auch in Deutschland erfolgreich: Im vergangenen Jahr eröffnete das erste Wutzimmer in Halle, seit März gibt es ähnliche Angebote in Berlin und München.

    Mersch kann sich mittlerweile vor Anfragen kaum retten. Immer öfter melden sich auch Gruppen bei ihm, die im Wutraum einen Junggesellenabschied, Betriebsausflug oder Geburtstag feiern wollen. Gefragt sind außerdem Scheidungspartys, zu denen man „persönliche Gegenstände“ des Ex-Partners mitbringen darf. Aber gemeinsames Kaputtmachen kann angeblich auch zusammenschweißen: Paare können sich bei Mersch zum „ersten Date“ verabreden oder ihr Jubiläum feiern.

    Vorher: Ein als Büro eingerichteter Wutraum vor seiner Zertrümmerung (oben) und nach seiner Zertrümmerung (unten), aufgenommen am 16.03.2015 in München (Bayern; Bildkombo). Im Wutraum können Kunden die Einrichtung eines Raumes mit Vorschlaghammer und Baseball-Schläger zertrümmern und sich dabei abreagieren. Foto: Tobias Hase/dpa (zu dpa "Gibs dem Computer: Im Wutraum mit dem Hammer den Stress besiegen" vom 10.04.2015)
    Vorher: Ein als Büro eingerichteter Wutraum vor seiner Zertrümmerung (oben) und nach seiner Zertrümmerung (unten), aufgenommen am 16.03.2015 in München (Bayern; Bildkombo). Im Wutraum können Kunden die Einrichtung eines Raumes mit Vorschlaghammer und Baseball-Schläger zertrümmern und sich dabei abreagieren. Foto: Tobias Hase/dpa (zu dpa "Gibs dem Computer: Im Wutraum mit dem Hammer den Stress besiegen" vom 10.04.2015) Foto: tha shp (dpa)

    Für alle Events gilt: Wegen der Verletzungsgefahr dürfen pro Raum nicht mehr als zwei Personen gleichzeitig zuschlagen. Die anderen Gäste können das Geschehen über zwei Monitore im Vorraum mitverfolgen und die „Schläger“ per Mikrofon anfeuern. Das Inventar bezieht der 35-Jährige aus Wohnungsauflösungen, auch Firmen und Secondhand-Läden entsorgen bei ihm Gegenstände, die sich nicht verkaufen lassen.

    Mersch sieht heute ein bisschen müde aus. Er ist schon lange auf den Beinen. Bereits um halb acht, erzählt er, sei die erste Kundschaft da gewesen: der Chef einer IT-Firma, der seiner Sekretärin das Paket „Büro zerstören“ spendiert hat. „Die Sekretärin ist zurzeit wohl sehr gestresst. Da wollte der Chef ihr die Chance bieten, sich mal richtig abzureagieren“, berichtet der gebürtige Oberpfälzer. Was dabei herausgekommen ist: ein Haufen Schrott. Er türmt sich im Raum nebenan.

    Überhaupt ist das Büro-Paket der Renner unter Merschs Angeboten. Die Erklärung liegt für ihn auf der Hand: „Hier in München gehen viele Leute einer monotonen Arbeit im Büro nach. Einige davon sind am Limit ihrer Belastbarkeit.“ Ihnen will Mersch ein „Ventil“ für Wut und Frustrationen bieten.

    Wütend und frustriert? Eigentlich bin ich gut gelaunt und ausgeschlafen – schlechte Voraussetzungen für meinen zerstörerischen Auftrag. Bislang sieht das Wohnzimmer, in dem ich toben soll, noch relativ heil aus. Aber die Musik treibt mich an. „Bummbumm“ dröhnt es hart, monoton und böse aus den Lautsprechern. „Break Stuff“ heißt der Song von Limp Bizkit passenderweise.

    Der nächste Schlag trifft den Fernsehbildschirm. Er fällt um. Und noch mal! Ich dresche auf den Monitor ein, das Glas zerspringt. Das hier für all den Mist, den ich mir schon anschauen musste!

    Dass Kunden zuerst Hemmungen haben zuzuschlagen, ist normal. So ging es auch der Erzieherin Janina Muth, die mit zehn Kolleginnen zwei Räume im Berliner „Crash Room“ zerstörte. Pädagogisches Ziel der Exkursion war herauszufinden, warum die Kinder in ihrer Kita so soft Sachen kaputt machen. „Zuerst sträubt sich alles dagegen, etwas zu zerschlagen“, sagt Muth. Schließlich lernen wir von klein auf, dass Zerstören schlecht ist. Wer etwas kaputt macht, wird geschimpft. „Mach keine Kratzer! Nicht fallen lassen! Sei vorsichtig! Nicht so fest!“ Solche Ermahnungen klingen nach. Kein Wunder also, dass es sich fremd und eigenartig anfühlt, etwas absichtlich kaputt zu machen. Hat man die Hemmschwelle überwunden, geht meist eine Verwandlung mit den „Wutraum“-Besuchern vor. Eine Kollegin, berichtet Muth, geriet derart in Rage, dass sie regelrecht zitterte, als sie den Raum verließ und sagte: „Das hat so gut getan.“

    Auch mich lässt es inzwischen kalt, dass ich Möbel kaputt mache, die völlig intakt sind. Die vielleicht noch vor kurzem von alten Leuten gehegt und gepflegt wurden. Stattdessen ärgert es mich, dass meine Schläge an der massiven Tischplatte abprallen. Kurz entschlossen tausche ich den Baseballschläger gegen einen Vorschlaghammer ein. Was für ein mächtiges Gerät. Nur mit viel Kraft kann ich es in die Höhe wuchten. Als das gewaltige Werkzeug auf den Tisch trifft, splittert endlich das Holz. Ich bin zufrieden und fange an, in meinem Schutzanzug zu schwitzen. Bin ich gar kein friedlicher Mensch? Schlummert in mir ein Monster?

    Am Tag zuvor hatte mir Christian Block, Betreiber des Berliner „Crash Rooms“, noch gesagt: „Den Kontrollverlust zu spüren, ist etwas Besonderes. Da kann man sich selbst mal ganz anders erleben. Sonst muss man sich ja immer an Regeln halten.“ Gerade Frauen fingen oft zaghaft an und holten dann immer größeres Werkzeug. Überhaupt, berichten die Betreiber übereinstimmend, sei ihre Kundschaft überwiegend weiblich. Mersch sagt: „Vielleicht liegt das daran, dass Frauen meistens kontrollierter sind und weniger Möglichkeiten haben, mal über die Stränge zu schlagen.“

    Aber ist ein solcher „Kontrollverlust“ denn positiv? Kann man beim Zertrümmern so viele Aggressionen los werden, dass man danach friedfertiger ist? Psychologen sind da skeptisch. Zum Beispiel sagt der Psychotherapeut Johannes Vennen aus Rendsburg: „Allerhöchstens hat man die körperliche Anspannung der Wut abgebaut. Aber dazu wäre auch Holzhacken geeignet. Oder Joggen.“ Auch Bruno Waldvogel, Vizepräsident der Psychotherapeutenkammer Bayern, hält es für unbefriedigend, „einfach wild draufloszuschlagen“. Zwar kann es durchaus sinnvoll sein, wenn wütende Menschen erst mal Dampf ablassen. Darum geht es unter anderem bei der Boxtherapie, einer ergänzenden Maßnahme bei der Psychotherapie. „Dabei lernt man aber, ganz gezielt zu schlagen und die Wut zu kanalisieren“, sagt Waldvogel. Sinnloses Zerstören hat dagegen keinen therapeutischen Effekt. Für schädlich hält der Psychotherapeut einen „Wutraum“-Besuch aber nicht: „Ich sehe das, ähnlich wie das Bungee-Jumping, unter der Kategorie Event. Es geht darum, sich einen Moment lang zu spüren.“

    Dennoch gibt es Pädagogen und Psychologen, die das Angebot für ihre Zwecke nutzen möchten. In Halle bietet „Wutraum“-Betreiber Marcel Braun zusammen mit einem Anti-Aggressions-Trainer bereits Workshops für Schulklassen an, die sich gegen Mobbing und Gewalt richten. Die Kinder dürfen sich zuerst im Wutraum verausgaben. „Damit wollen wir sie auf unsere Seite ziehen und mental einfangen. Wenn sie still sitzen müssten, wären sie nicht lange dabei“, sagt Braun. Danach folgt das eigentliche Training mit Rollenspielen und Gesprächen. Auch die Erzieherin Janina Muth fand ihren Betriebsausflug nicht nur „angenehm“, sondern auch pädagogisch wertvoll: „Uns ist klar geworden, wie viel Wut dahinterstecken muss, wenn Kinder etwas kaputt machen. Wir wollen jetzt zusammen mit ihnen herausfinden, woher diese Wut kommt.“ Muth selbst hat so sehr gewütet, dass ihr später alles wehtat.

    Mir wird es kaum anders gehen. Es ist enorm anstrengend, den Hammer zu schwingen. Die Arme schmerzen, Schweißperlen bilden sich unter meiner Schutzbrille. Dafür geht die Arbeit gut voran. Tisch, Stühle, Schrank, alles kaputt. Bloß die Kommode mit dem Bücherregal steht noch unversehrt. Ich hole erneut aus. Das Regal schwankt, bleibt zu meiner Enttäuschung aber stehen. Nur der „Zigeunerbaron“, eine alte Schallplatte, fällt mir entgegen. Ich kann nicht mehr. Da fällt mein Blick auf einen vergilbten Wälzer mit dem Titel „Schlag nach“. Welch Botschaft! Noch einmal hebe ich den Hammer und ramme ihn ins Regal, das jetzt krachend zu Boden geht. Ich bin müde, aber glücklich.

    Fast jeder, der den „Wutraum“ verlässt, strahlt, wie Mersch berichtet. Im Schnitt dauert es eine halbe Stunde, bis ein Kunde das Zimmer komplett verwüstet hat. Das Aufräumen dauert länger: Mersch und seine beiden Mitarbeiter brauchen zwei Stunden, bis sie den Schutt entfernt und das Zimmer neu eingerichtet haben. Sicher keine schöne Aufgabe. Aber ich bin zu erschöpft, um Mitleid zu haben. Ich schlüpfe aus dem Schutzanzug, lasse mich auf den Barhocker im Vorraum sinken und trinke Wasser.

    Auf dem Monitor sieht man die Schrottberge, die ich geschaffen habe. Ich bin stolz, als ob ich etwas Großartiges geleistet hätte. Und sonst? Bin ich einfach nur müde – so müde, dass mich für den Rest des Tages bestimmt nichts mehr aufregt.

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