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WÜRZBURG: Handschriften-Invaliden und Buchpatienten: Retter gesucht

WÜRZBURG

Handschriften-Invaliden und Buchpatienten: Retter gesucht

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    Das Katalogfragment aus der Dombibliothek Würzburg um 1000, mit dem Güterverzeichnis der Domkustodie: Der Buchblock ist mit dem Holzdeckel nur noch minimal mit einem Faden verknüpft.
    Das Katalogfragment aus der Dombibliothek Würzburg um 1000, mit dem Güterverzeichnis der Domkustodie: Der Buchblock ist mit dem Holzdeckel nur noch minimal mit einem Faden verknüpft. Foto: Foto: Daniel Peter

    Vor 1000 Jahren begann ein Schreiber in der Dombibliothek zu Würzburg fein säuberlich alle Bibelhandschriften, Klosterregeln, Canones-Sammlungen und sonstige theologische Literatur aufzulisten, die das Domstift besaß. In der ersten Spalte der Tabelle erst alle Bücher der Bibel, gegenüber die Namen der Autoren, die den jeweiligen Text kommentiert hatten. Der Katalog sollte offenbar nicht als Bestandsnachweis dienen, sondern genutzt werden können als Nachschlagewerk zur Bibelexegese. Der Schreiber hatte seine Liste direkt an die „Retractationes“, die „Rückbesinnungen“, des berühmten Kirchenvaters Augustinus angefügt, die wiederum gut 150 Jahre zuvor jemand auf Pergament niedergeschrieben hatte.

    Vollständig wurde der Katalog aus der Dombibliothek allerdings nie. Der Bestand des Domstifts umfasste weit mehr Bände als der Schreiber verzeichnete. Und die liturgischen und die weltlichen Texte wurden ganz außen vor gelassen. Nach wenigen Jahren war das ambitionierte Katalogprojekt offenbar vergessen. Und auf dem letzten Blatt war eine Ecke frei geblieben. So nutzte jemand den Platz – und verzeichnete die Güter der Domkustodie dort: Hufen, Weinberge.

    „Das älteste in Franken erhaltene Besitzverzeichnis überhaupt. Und ein einzigartiges Zeugnis der Bibliotheksbenutzung in frühester Zeit“, sagt Marion Friedlein über den Schatz im Halbledereinband, den sie – wenn überhaupt – nur mit weichen Handschuhen anfasst. Vorsichtig hebt die Bibliothekarin in der Würzburger Universitätsbibliothek den Holzdeckel, dann runzelt sie die Stirn. Das Bezugsleder ist stark abgerieben, rissig und vom Wurmfraß durchlöchert. Die Kettenöse, die früher im Rückdeckel angebracht war, hat Rostspuren hinterlassen, auf dem Vorderdeckel sind Wasserränder. Schließteil und Lederriemen fehlen, der Buchblock ist mit dem Holzdeckel nur noch durch einen einzigen Faden verknüpft. Die Pergamentblätter selbst: verformt, gewellt, verschmutzt, angefressen.

    „Es ist das Grundproblem“, sagt Dr. Hans-Günter Schmidt. „Wir sind Staats- und Universitätsbibliothek seit 1803, wir haben das Buchkulturgut zu erhalten. Bei Landesausstellungen rühmt man sich mit den Objekten. Aber der Freistaat gibt kein Geld.“ Für den Bestandserhalt, rechnet der Direktor der Universitätsbibliothek vor, stünden null Komma null Euro zur Verfügung. Laut der Richtlinien zur Literaturversorgung in Bayern müssten eigentlich 7,8 Millionen Euro nach Würzburg fließen, der Bestandserhalt sei da noch gar nicht drin. „Aber der Stand letztes Jahr: 2,9 Millionen Euro“, sagt Schmidt. „Der Laden ist unterfinanziert, für Bestandserhalt ist gar nichts übrig.“ Der Blick des UB-Leiters geht, durchaus neidvoll, nach München: Anders als die Unibibliotheken erhält die Bayerische Staatsbibliothek für die Restaurierung und Digitalisierung ihres Altbestands Geld vom Staat.

    Marion Friedlein streicht in der Abteilung für Handschriften und Alte Drucke mit dem Handschuhfinger vorsichtig über den dünnen Faden, der 46 Pergamentseiten und Einband noch verbindet. Das Katalogfragment: ein Buchpatient. Die Restaurierung und Digitalisierung, schätzt die Bibliothekarin, wird rund 2300 Euro kosten.

    Die Handschrift aus der Dombibliothek gehört zum Wertvollsten überhaupt im Bestand der Universitätsbibliothek. Versicherungswert: rund 1,5 Millionen Euro. Jetzt hat Marion Friedlein wieder Hoffnung, dass die „Retractationes“ des Augustus und der angefangene Bestandskatalog sich nicht komplett auflösen und völlig zerfallen: Der Alumni-Verein der Universität hat ein Spendenprojekt gestartet mit dem Ziel, die Buchpatienten, die besonders bedauernswerten Bücher der UB zu retten. Nicht alle freilich. Doch wenigstens die Handschriften, die frühen Drucke, die am wertvollsten und am schlimmsten betroffen sind. Und solche, die so stark geschädigt sind, dass sie nicht einmal für die wissenschaftliche Erforschung nutzbar sind.

    „Wir sind kein Museum, die Bücher werden gebraucht“, sagt Schmidt. Mehr als zwei Dutzend Objekte haben die Mitarbeiter der Universitätsbibliothek aus dem riesigen Altbestand ausgewählt: eine medizinische Sammelhandschrift aus dem 13. Jahrhundert, ein Arznei- und Geheimmittelbuch aus dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts, das „Buch der Natur“ von Konrad von Megenberg, Hartmann Schedels Weltchronik, Martin Luthers „Das Newe Testament deutzsch“, ein „Kurzes Geschichtsbüchlein der Bischöfe von Würzburg“ aus dem Jahr 1580.

    Hier sind die farbigen Initialen zerfressen, da fliegen Blätter, dort ist der Buchrücken im Falz komplett gerissen. Hier haben sich Insekten durchs Bezugsleder genagt, da sind Lagen locker, dort wölben sich Deckel. Die Kosten für die Behandlung und Restaurierung schätzen Hans-Günter Schmidt und Marion Friedlein mal auf 1000, mal auf 1500, manchmal auf deutlich über 2000 Euro.

    „Betteln auf hohem Niveau“, sagt Michaela Thiel, die Leiterin des Alumnibüros, lächelnd über die Spendenaktion. Den Alumni geht es darum, „ihrer“ Universität nach dem Studium etwas zurückzugeben und in Verbindung zu bleiben. Und mit der UB, sagt Thiel, würde nun wirklich jeder ehemalige Student etwas verbinden. Im kommenden Jahr feiert die Universitätsbibliothek ihr 400-jähriges Bestehen. Zumindest ist für das Jahr 1619 die Bibliothek erstmals belegt: Auf einer Rechnung von damals nämlich taucht die Anschaffung eines Regals für die UB auf. Da lag es für den Alumni-Verein nahe, aktiv zu werden. Und die ersten Buchpaten sind gefunden. Für die „Geographia“ des Ptolemäus zum Beispiel, 1482 in Ulm bei Lienhart Holl gedruckt und eines der bedeutendsten deutschen Inkunabelwerke. Die Initialen, Rahmen und Karten sind wunderschön koloriert, mit den Farbtönen braun und gold für die Bergketten und einem strahlenden lapislazuliblau für die Gewässer. Doch mindestens zwei der 130 Blätter fehlen völlig, viele andere sind überklebt, zerrissen, zerfressen. Der Restaurator, der sich für mindestens 2140 Euro des Patienten annehmen wird, wird eine Weile zu tun haben.

    „Wir verwandeln die Patienten in Leichen, wenn wir nichts tun“, sagt Handschriftenexperte Hans-Günter Schmidt. 2300 abendländische Handschriften, 3141 Inkunabeln und rund 60 000 alte und besondere Drucke ab dem 16. Jahrhundert, dazu 1600 Grafikblätter, historische Karten und Zeichnungen hat die UB in ihren historischen Sammlungen. „Sie können davon ausgehen, dass die Hälfte davon geschädigt ist“, sagt Schmidt. „Es ist ein Massenproblem.“ Mehrere Hundert Objekte müssten behandelt werden, „um sie benutzbar zu machen“.

    Es sind nicht nur die Jahrzehnte und Jahrhunderte, die intensive Benutzung, Insektenfraß, Schimmel oder Tintenfraß, die am einzigartigen Bestand nicht spurlos vorübergegangen sind. Vor allem unter der Rettungsaktion von 1944, laut Schmidt einem „Akt des zivilen Ungehorsams“, haben die Handschriften und frühen Drucke gelitten. Die Universitätsbibliothekare lagerten – mitten im Krieg – einen Großteil der Bestände aus und versteckten sie heimlich in improvisierten Depots: im Forsthaus Guttenberg, in Arnstein im Banktresor der Sparkasse, in Rottendorf in einer Scheune, in Schuppen, in Höhlen.

    Die Bände entgingen zwar der Zerstörung in der Bombennacht des 16. März 1945. Doch kamen sie nach dem Krieg angegriffen und klimageschädigt nach Würzburg zurück. Jetzt haben die Alumni eine kleine Rettungsaktion gestartet, wenigstens für zwei Dutzend der wertvollsten Stücke. Und der 1000 Jahre alte mitgenommene Bibliothekskatalog – er soll nicht „schön“, nicht geglättet werden. „Das Buch soll seine Geschichte und Spuren behalten“, sagt Marion Friedlein. „Aber es soll nicht mehr auseinanderfallen, wenn man es aufklappt.“

    Buchpaten-Projekt Im Alumni-Netzwerk der Universität Würzburg sind 45 000 Ehemalige und Absolventen aus über 90 Ländern registriert. Der Begriff Alumni bedeutet so viel wie 'Zögling'. Eingeladen ins Alumni-Netzwerk sind deshalb alle, die einen Zeitabschnitt ihres Lebens an der Uni Würzburg verbracht haben oder gerade verbringen. Das Fundraising-Projekt des Vereins hat das Ziel, besonders stark geschädigte Bücher der Universitätsbibliothek zu retten. Im Zuge der Restaurierung werden ausgewählte Bücher digitalisiert und damit weltweit und langfristig der Forschung zugänglich gemacht, über die Bibliotheksgrenzen hinweg. Pate werden und spenden kann jeder. Auf den Internetseiten des Alumni-Vereins und der Unibibliothek werden die Buchpatienten vorgestellt. Das Geld kann man einem konkreten Werk oder dem Gesamtprojekt zugute kommen lassen. Infos: www.uni-wuerzburg.de oder beim Alumni-Büro: Tel. (0931) 31-83150 E-Mail: alumni@uni-wuerzburg.de

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