Meinen Speer spanne ich hier ein und hole nach hinten aus. Und wenn ich den Speer jetzt schleudere“, kommentiert die Urgeschichtlerin Ewa Dutkiewicz, „habe ich einen verdoppelten Wurfarm und wesentlich mehr Durchschlagskraft.“ Die Speerschleuder in der rechten Hand, streckt sie ihren Arm in die Luft und setzt zu einem Wurf an. Dann erklärt sie strahlend: „Unser Bild vom tumben Eiszeitmenschen, der mit der Keule auf ein Mammut losgeht, ist falsch. Diese Schleuder ist High-Tech, das ist Verständnis von Physik.“
Der Archäopark Vogelherd bei Niederstotzingen am Rand der Schwäbischen Alb macht die Lebenswelt des Steinzeitmenschen erfahrbar. Wie riecht ein Höhlenbär? Wie hört sich der Schrei eines Mammuts an? Wo hat der Eiszeitmensch gewohnt? Was hat er gegessen? Ewa Dutkiewicz kann beinahe jede Frage beantworten und sie weiß, dass wir dem Steinzeitmenschen viel zu verdanken haben. Denn ob Hebelwirkung, das Feuer oder die knöcherne Nähnadel – unsere Kultur baut auf den Erkenntnissen der 40 000 Jahre alten Jäger und Sammler auf.
Die Höhlen des Lone- und Achtals, der Archäopark Vogelherd und drei Museen der Region machen die Schwäbische Alb zu einem Schauplatz der Vorzeit. In einem Radius von rund 130 Kilometern, zwischen Wiesen, bewaldeten Hügelketten und karstigen Felsformationen, wird die Steinzeit lebendig. Als der Mensch gerade Homo sapiens geworden war und mit den niedrigen Temperaturen der Eiszeit kämpfte. Im Winter mit den Bären um die knappen Schlafplätze in den Höhlen konkurrierte. Und Mammutherden auf Futtersuche tiefe Spuren in die Talhänge stampften.
Durch die imposante Halle des Hohle Fels klingen die süßen Töne einer Flöte aus Gänsegeierknochen. Das zierliche Instrument hatte einst fünf Grifflöcher und ist zwischen 35 000 und 40 000 Jahre alt. Hier im Hohle Fels, einer der größten Karsthöhlen im süddeutschen Raum, entdeckten Archäologen das steinzeitliche Flötchen – zerbrochen. Nachgebaut und am gekerbten Mundstück richtig überblasen, können ihr Kundige noch heute Melodien entlocken.
Acht Flöten bargen Wissenschaftler insgesamt aus den Böden mehrerer Höhlen der Schwäbischen Alb, gefertigt aus Vogelknochen oder Mammutelfenbein. Damit nicht genug: In den Tälern des Mittelgebirges fanden sich nicht nur die bisher ältesten Musikinstrumente der Welt, sondern weitere archäologische Kostbarkeiten. Mehrere handtellergroße Tierstatuetten, eine üppige Frauenfigur, die sogenannte Venus vom Hohle Fels, oder das außergewöhnliche Mischwesen des Löwenmenschen.
Unweit vom Örtchen Rammingen-Lindenau führt ein kurzer Fußmarsch durchs Lonetal zur Stadelhöhle. Der glitschige Höhleneingang mündet in unwirtliche Dunkelheit voller Geröll. Für die Steinzeitmenschen hat die Stadelhöhle eine besondere Rolle gespielt. Die Forscher machten hier nur wenige Funde, die darauf schließen lassen, dass an diesem Platz Menschen wohnten und jagten. Dafür entdeckten sie, abgetrennt durch einen Felsvorsprung in einer Kammer, die mit Abstand größte Figur der Region. Den Löwenmenschen.
Die Figur des Löwenmenschen ist rund 30 Zentimeter hoch und aus Mammutelfenbein geschnitzt. Sein Gesicht und seine Ohren sind die eines Löwen. Er hat Pranken, keine Hände. Menschlich ist es, wie er aufrecht steht und sein Bauchnabel, Beine und Füße sind es auch. Claus-Joachim Kind vom Esslinger Landesamt für Denkmalpflege hält zwei Interpretationen für möglich. Entweder handele es sich um eine Chimäre: „Ist es ein Mischwesen, hätten wir es mit einer enormen intellektuellen Leistung zu tun. Denn eine solche Chimäre gibt es im wirklichen Leben ja nicht.“ Oder der Künstler habe einen Schamanen dargestellt: „Ein Schamane, der einen menschlichen Unterkörper hat und über seinen Kopf einen Tierkopf mit Fell gestülpt hat.“ Solche Praxis sei ethnografisch belegt.
Als Kulisse für die ersten Regungen des Menschen erscheint die feucht-kalte Stadelhöhle jetzt in einem anderen Licht. Vor dem geistigen Auge entstehen Szenen, wie sie sich vor vielen Tausenden Jahren abgespielt haben könnten. Im spärlichen Feuerschein tanzen Schatten an der Wand. Eine Gruppe von Eiszeitjägern drängt sich im Heiligtum, sucht Beistand. Ein Schamane murmelt.
Der Löwenmensch, die Flöten, der gefundene Schmuck – mit diesen Artefakten und Statuetten schuf der Mensch bereits vor 40 000 Jahren etwas, das weit über seinen Alltag hinauswies. Die zahlreichen archäologischen Schätze beweisen, dass der Homo sapiens jener Zeit künstlerisch tätig war. Johannes Wiedmann vom Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren erklärt, warum: „Es gibt die Theorie, dass uns die Kunst einen Vorteil gebracht hat, weil sie unser Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt hat.“ Das habe dazu geführt, dass wir die letzte Eiszeit überlebt haben, fügt der Archäologe mit dem Rauschebart hinzu. Während die Neandertaler, die sich nicht künstlerisch betätigten, ausstarben.
Nicholas Conard, Paläontologe an der Universität Tübingen, ist der Meinung, dass die geringe Gruppengröße der Neandertaler eine wichtige Rolle spielte. „Die Horden der Neandertaler waren so klein, dass sie keinen Bedarf an symbolischer Kommunikation hatten. Sie kannten einander.“ Symbolische Artefakte wie sie der moderne Mensch in der Schwäbischen Alb geschaffen habe, könne man sich aber als eine Art Klebstoff vorstellen, der die Menschen zusammengehalten habe. Conard ist davon überzeugt, dass da auch religiöse Vorstellungen eine Rolle spielten. „Die Menschen, die hier vor 40 000 Jahren lebten, haben sich bereits mit dem Jenseits und mit der Art und Weise wie die Welt um sie herum funktioniert hat, auseinandergesetzt.“
Wassertropfen fallen hörbar vom Höhlengewölbe. Der Hohle Fels bei Schelklingen ist eine der wichtigsten Steinzeitfundstellen am Südrand der schwäbischen Alb. Die archäologischen Schichten reichen vom Ende der jüngeren Altsteinzeit vor rund 10 000 Jahren bis in die Zeit der Neandertaler vor über 50 000 Jahren hinab. Nicholas Conard klettert auf einer schmalen Leiter in eine tief liegende Ausgrabungsstätte. Hier, er macht eine Geste mit der Hand, habe man die Venus vom Hohle Fels gefunden. Das war im September 2008. „Die Venus war weitgehend vollständig, nur die linke Schulter und der Arm fehlen. Sie besteht aus insgesamt neun Teilen, die zusammengesetzt wurden.“
Die Venusfigurine steht seit 2014 schön ausgeleuchtet im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren. Sie ist rund sechs Zentimeter hoch und, wie der Löwenmensch, aus Mammutelfenbein geschnitzt. Sie stammt aus dem Zeitalter des Aurignacien und ist rund 35 000 bis 40 000 Jahre alt. Sie besitzt keinen Kopf. Stattdessen eine Öse, durch die man eine Schnur fädeln kann. Das lässt den Schluss zu, dass sie als Anhänger getragen wurde. Ihre Beine sind kurz, dafür hat sie überdimensionierte Brüste, Gesäß und Schamlippen.
Nicholas Conard interpretiert die Venusfigur als eine Art „Superfrau“, die Weiblichkeit und Sexualität verkörpert. Entkoppelt von der individuellen Identität einer real existierenden Frau. Die Venus vom Hohle Fels, vermutet der Wissenschaftler, habe eine außer- und übermenschliche Funktion innegehabt. „Im allgemeinsten Sinne ist es damit nicht falsch von einer Art Göttin oder einem Hilfsgeist zu sprechen.“ Wegen der geringen Größe der Figur tippt er darauf, dass sie sich im Besitz einer einzelnen Person befand. Und vermutet außerdem, dass es Frauen waren, die sie bei sich trugen: „Denkbar wäre etwa die Weitergabe des Amuletts von der Mutter zur Tochter.“
Johannes Wiedmann vom Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren hat für die stattliche Oberweite der Venus eine weitere Theorie parat. In Jäger- und Sammlergesellschaften, erklärt er, bekommen Frauen maximal alle vier Jahre ein Kind. Das letzte Kind müsse immer so groß sein, dass es selbstständig mitlaufen könne, wenn die Gruppe weiterzieht – da die Mutter keine zwei Kinder tragen könne. „Also haben die Frauen sehr lange gesäugt. Wichtiger als die Fruchtbarkeit war damals die Fähigkeit, das Kind so lange zu säugen, dass es überlebt.“ Dann fügt er lachend hinzu: „Aber bei aller Deutung: Wir wissen nicht, was die Menschen damals dachten.“