S elbstbewusst steht Sam im Atelier, ohne einen Fetzen Stoff am Leib, wie ihn der Herrgott geschaffen und wie ihn Ernst Ludwig Kirchner fotografiert hat. Die kleine Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Jahr 1911 lässt ein wenig vom ungewöhnlichen Leben, Arbeiten und Treiben der vier Männer erahnen, die sich vor genau 100 Jahren in Dresden zur Künstlergemeinschaft "Die Brücke" zusammenschlossen: der 1880 in Aschaffenburg geborene Kirchner, der gleichaltrige Fritz Bleyl aus Zwickau, der drei Jahre jüngere Erich Heckel, der im Erzgebirge aufgewachsen war, und Karl Schmidt, 1884 als Sohn eines Müllers in Chemnitz-Rottluff geboren, der sich ab dem Gründungstag, dem 7. Juni 1905, Schmidt-Rottluff nannte.
Dieser Tag gilt als Geburtsstunde des deutschen Expressionismus. Dabei waren die vier gar keine Künstler im akademischen Sinn. Sie waren Autodidakten, hatten sich als Architekturstudenten an der Technischen Hochschule in Dresden kennen gelernt. Was sie einte, war eine radikale Ablehnung des akademischen Kunstbetriebs und der bürgerlichen Konventionen der wilhelminischen Zeit. Ihr Lebenstil und ihre Malerei waren Auflehnung gegen moralische Heuchelei und sexuelle Tabus. Im 1906 von Ernst Ludwig Kirchner verfassten und in Holz geschnittenen Manifest riefen die vier "alle Jugend zusammen": "Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt."
Ein leer stehender Metzgerladen wurde ihr erstes Domizil. Schon bald stieß Max Pechstein zur verschworenen Gemeinschaft - und für eineinhalb Jahre Emil Nolde, dessen Farbenstürme die Gründungsmitglieder tief beeindruckt hatte. Man wollte "revolutionäre und gärende Elemente" aus ganz Europa versammeln, schrieb an Henri Matisse, einen der wichtigsten Vertreter des französischen Fauvismus, an Wassily Kandinsky und viele mehr. 1910 wurde Otto Mueller aktives Mitglied.
Die Brücke-Maler suchten das Lebendige, das intensive Leben, um für ihre Kunst eine neue Form zu schaffen. Das fanden sie abseits der bürgerlichen Pfade, in der Zirkus- und Varietészene, in den Cafés, vor allem aber in der Natur. 1909 entdeckten sie die Moritzburger Seen, unweit von Dresden, einen abgeschiedenen Ort, an dem sie nackt badeten, sich sonnten, arbeiteten. In den Töchtern einer Artistenwitwe fanden die Maler junge Frauen, die sich ohne Hemmungen zeichnen ließen.
Die Brücke-Mitglieder stellten den nackten Menschen mit neuen Mitteln dar. Auf Gemälden aus dieser Zeit leuchten die Körper blau, rot, und gelb zwischen den Bäumen hervor. Die Farbe gewann an Bedeutung, wurde nicht mehr verwendet, um einen Gegenstand zu bezeichnen, sondern um die ganz persönlichen Stimmungen und Empfindungen wiederzugeben. Dieser neue Umgang mit Farbe und die Tendenz zur Abstraktion kennzeichneten den "Brückenschlag" zu neuen Ufern in der Kunst, den die Mitglieder mit ihrem Namen symbolisieren wollten.
Mit ihren Bildern aus der Anfangszeit, ihren ungestümen Versuchen identifizierten sich die Künstler später nur noch ungern. Schmidt-Rottluff vernichtete fast alle Arbeiten der ersten zwei Jahre, Kirchner bezeichnete seine ersten Bilder als "Jugendeseleien", auch von Heckel sind kaum noch frühe Werke erhalten. Was all die Jahre blieb, war die Verachtung der Brücke-Maler für alles Dekorative, für die von ihnen als Pseudokunst angesehene Salonmalerei. Aber in der Kunst früherer Jahrhunderte entdeckten sie Parallelen zur eigenen expressiven Ausdrucksweise. Sie experimentierten mit der Holzschnitzkunst und studierten die außereuropäische Volkskunst, die sie im Dresdner Volkskundemuseum entdeckt hatten.
Vor allem Ernst Ludwig Kirchner ließ sich von vielen Kulturen inspirieren. Sein Dresdner Atelier in der Berliner Straße 80, das berühmteste und quasi der Brücke-Treffpunkt schlechthin, verwandelte er in eine kurios-exotische Behausung. Kirchner bemalte jeden Winkel, fertigte primitive Sitzgelegenheiten an, schnitzte und modellierte Skulpturen und behängte Wände und Türen mit Stoffbahnen, die er gebatikt, gefärbt und bemalt hatte. Auf vielen Gemälden und Fotos sind diese Vorhänge deutlich zu erkennen. Einer zeigt ovale Medaillons, in denen sich stark stilisierte Liebespaare in unterschiedlichen Stellungen zeigen.
In dieser eindeutig erotischen Atmosphäre trafen sich die Brücke-Mitglieder, um zu diskutieren und zu arbeiten - vor allem, um nach dem lebenden Modell zu zeichnen. Aber nicht in herkömmlicher Weise, wie in den Akademien, sondern als "Viertelstundenakt". Die Modelle wechselten alle 15 Minuten ihre Posen, die Maler versuchten, das Lebendige, die Bewegung einzufangen.
Auf vielen Zeichnungen, Gemälden und Holzschnitten ist ein junges Mädchen mit großen schrägen Augen abgebildet, das sich am Strand oder im Atelier räkelt. In der Kunstwelt ist sie als Fränzi bekannt. 1910 wurden die Brücke-Künstler auf die damals neunjährige Lina Franziska Fehrmann aufmerksam, das 15. Kind einer Putzmacherin und eines Schlossergehilfen. Sie wurde bald zum Lieblingsmodell von Heckel, Kirchner und Pechstein. Die Fränzi-Bilder dokumentieren die Suche der Künstler nach einem neuen Menschenbild, frei von Zwängen.
Eine Ahnung von der ungewöhnlichen Atmosphäre dieses Ateliers bekommt der Besucher der ersten Ausstellung in Bayern zum Jubiläum "100 Jahre Brücke", die noch bis 31. Juli in der Galerie Alte Reichsvogtei der Städtischen Sammlungen Schweinfurt zu sehen ist. Ihr Untertitel lautet "Das Dresdner Atelier von Ernst Ludwig Kirchner" und deutet das Außergewöhnliche dieser Ausstellung an. Bevor der Besucher die 40 fast ausschließlich grafischen Werke von Kirchner, Bleyl, Heckel und Schmidt-Rottluff zu Gesicht bekommt, muss er erst einmal durch einen Raum, in dem die Atmosphäre des berühmten Kirchner-Ateliers in Dresden nachempfunden wird.
Und da seien empfindliche Seelen gewarnt. Nicht nur Sam erwartet die Besucher in einer wandhohen Reproduktion in seiner ganz Schönheit. Gleich daneben lümmelt die kleine Fränzi mit einem Jungen auf einem Diwan und gewährt einen tiefen Blick auf das, was sie unter ihrem Kleidchen trug. Durch einen Vorhang, einer Kopie von Kirchners Vorhang mit den stilisierten Liebespaaren, betritt der Besucher die eigentliche Ausstellung mit 40 Arbeiten aus dem Besitz eines Privatsammlers, der ungenannt bleiben möchte.
Eine bedeutende Privatsammlung aus Würzburg steht im Mittelpunkt der Jubiläumsausstellung der Stiftung Moritzburg bei Halle. Sie zeigt bis 21. August ausschließlich Kunstwerke aus der Sammlung von Professor Herrmann Gerlinger, darunter als Besonderheit alle so genannten Jahresgaben, mit denen die Brücke-Maler ihre Mäzene, die sie passive Mitglieder nannten, bedachten.
Mögliche Käufer lockten sie mit bemalten Postkarten und Briefen. "Augenblicklich sind wir . . . wieder in Moritzburg. Es gibt nichts Reizvolleres als Akte im Freien", schrieb Kirchner an das passive Mitglied Gustav Schiefler, einen Hamburger Landesgerichtsdirektor. Als dieser anreiste, geriet er in ein "seltsames Bohème-Leben", losgelöst von jeder Ordnung des Tages. "Ich bin überzeugt, dass sie sich nicht selten nur von Kaffee, Kuchen und Zigaretten ernähren".
Das hatte wohl auch finanzielle Gründe. In Dresden konnten die Maler von der Kunst nicht leben. 1911 zogen sie einer nach dem anderen nach Berlin. Hier ließ sich die Einheit von Natur und Kunst nur noch schwer verwirklichen. Jeder ging seinen eigenen künstlerischen Weg, die verschworene Bruderschaft, das existenzsichernde System mit passiven Mitgliedern und gemeinsamen Ausstellungen zerfiel. So war abzusehen, was sich 1913 ereignete: Kirchner sollte in einer Chronik Bilanz ziehen, die aber nicht die Billigung der anderen fand. Er hatte sich selbst zu sehr in den Vordergrund gerückt. Am 27. Mai, acht Jahre nach der Gründung, teilten Heckel, Schmidt-Rottluff und Mueller die Auflösung der "Brücke" mit.
Heute halten viele ihre Arbeiten - neben denen der 1911 in München gegründeten Künstlergruppe "Der blaue Reiter" und dem Bauhaus - für den wichtigsten deutschen Beitrag zur Moderne. Für die Nazis war es "entartete Kunst". Sie entfernten 3711 Brücke-Werke aus deutschen Museen. Viele der Arbeiten kehrten nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Um den 100. Geburtstag ist ein regelrechter Hype entstanden, mit Ausstellungen von Madrid bis Berlin.
Eine Auswahl: Berlin, Brücke-
Museum, bis 11. September frühe
Druckgrafiken. Neue Nationalgale-
rie, bis 11. September Gemälde,
Papierarbeiten, Drucke
Dresden widmet der "Brücke"
Festwochen bis 2. Juli. Vom 1.
Oktober bis 15. Januar werden in
der Berlinischen Galerie 200 Werke
präsentiert, die zuvor im Museo
Thyssen-Bornemisza in Madrid ge-
zeigt werden.
Das Kirchner-Museum im schwei-
zerischen Davos zeigt bis 23. Okto-
ber die Jahresmappen.