L autes Spatzenkonzert ließ die ältere Dame aus ihrem Dachfenster schauen. Ein Sperlingsküken war beim Flugversuch in die Dachrinne getrudelt und zappelte erbärmlich piepend. Sogleich sammelte sich eine Schar von dreißig Spatzen, wirbelte wieder fort, um Heu heranzuschleppen. Alle schoben es unter den Unglückswurm, bis das Kissen so dick war, dass der Kleine über den Rand der Rinne krabbeln, erneut starten und ins Leben fliegen konnte.
Mit ähnlichen Gemeinschaftsaktionen haben diese Vögel alle Katastrophen der Sperlingshistorie überlebt - bis heute, da ihnen die tödlichste aller Gefahren droht.
Ihre Urheimat sind die Steppen Vorderasiens. Dort schlossen sie sich den Hunnen an, besser: deren Pferden, noch besser: deren Pferde-"Äpfeln", aus denen sie halb verdaute Haferkörner pickten. Das Hunnenreich ging zugrunde. Die Schilphälse eroberten aber ganz Europa - und bald darauf mit den Pferden des weißen Mannes die ganze Welt.
Die erste Katastrophe brach nach dem Zweiten Weltkrieg über das agile Federvolk herein. Die Pferde wurden von Autos verdrängt. Aber, weit davon entfernt, ein Spatzengehirn zu haben, erschlossen sie sich schnell neue Futterquellen. Überall waren ihre Kundschafter auf Tour: in Papierkörben, Gossen, Schulhöfen, Gärten, Gräben, auf Kaffeeterrassen, und pfiffen sich die Neuigkeit zu.
Flink lernten sie, sich wie Meisen an Futterringe zu hängen, wie Fliegenschnäpper im Fluge Blattläuse von Rosen zu picken, mit Turmfal-kentechnik Käfer zu greifen, wie Bachstelzen flatternd tieffliegende Insekten zu fangen. In unserem Garten biegt Mutter Spatz lange Grashalme nach unten, damit ihre Kinder die Samen erreichen können. Alles Nahrhafte wird von Kundschaftern mit Freudengezwitscher von allen Dächern gepfiffen. Die anderen kommen herbei und machen sich gleich die Neuheit zunutze.
Doch dieser Gemeinschaftsgeist, dieses perfekte Nachrichten-System, hat nun keinen Sinn mehr. Unterm Dach zwitschern kaum noch die Jungen. Warum? Die Eltern dürfen ihre Küken nicht mit Brotkrumen vom Gartentisch füttern. Sie brauchen Fleisch von Insekten. Und die sind in den Städten rar geworden. Kaum dass noch eine Fliege im Zimmer summt. So sterben die dreimal sechs Kinderchen pro Jahr in einem Nest wie die Fliegen.
Allenfalls bleiben ihnen die Blattläuse im Rosengarten. Aber wenn diese mit Gift besprayt werden, krepieren auch die Küken im Nest. Schlimm für die kleinen Piepser ist auch die Wohnungsnot. Unsere Dachdecker pfuschen kaum noch. Nirgends bleibt ein Loch als Unterschlupf. Als erste leiden die Männchen darunter. Wenn eines Hochzeit halten will, hat es nur dann Chancen, wenn es Wohnraum vorweisen kann: einen schönen Nistplatz unterm Dach juchhe.
Das Nest kann mickrig und zerzaust sein. Das spielt keine Rolle. Hauptsache ist der Grundbesitz. Mit armen Schluckern, die so etwas nicht haben, gibt sich ein heiratswilliges Weibchen niemals ab. Die Dreckspatzen leben also als standesbewusste Kapitalisten in höchst materialistischen Liebesverhältnissen.
Viele junge Habenichtse stromern in Rockerbanden umher und machen die "Damen" mit lautem Schilpkonzert an. Der Skandal schwillt zum Orkan. Eine Spatzenhochzeit mit Vielmännerei? Niemals! Denn jeder Rocker hindert jeden seiner Kumpel sexualneidisch an der Paarung. Alles ist nur viel Lärm um nichts.
Die eigentliche Vermählung findet stets in aller Stille und trauter Einsamkeit statt, nachdem sich die Braut in Damenwahl für den Besitzer einer Luxusvilla entschieden hat. So leben die Haussperlinge trotz gelegentlicher Schilp-Skandale brav sittsam in Einehe.
Manchmal wird Herr Spatz von der Katze geholt. Dann zeigt sich der Nachbar als rührender Witwentröster. Damit betreibt er zwar Vielweiberei, doch vom Sex hat der Minipascha nicht mehr viel. Statt dessen muss er bis zur Erschöpfung schuften, um die Jungen in zwei oder drei Nestern zu betreuen, sie zu wärmen, zu füttern und vor Feinden zu beschützen. Oh, du armer Bigamist!