Der Bus ist in Roms Verkehrschaos gerade erst abgefahren. Da läutet schon die erste Glocke. Es ist kein Klingelglöckchen, auch keines, das einfach nur bimmelt, schellt oder schrillt. Die Glocke tönt voll und schön melodisch. Ihr Nachklang dauert mehrere Sekunden und erweckt sogleich Sehnsucht, das Geläut noch einmal zu hören.
„Willkommen auf der Fahrt zur Glockenstadt Agnone“, sagt dann auch Reise-Organisator Domenico Lanciano. Und so eingestimmt geht es dem Besuch des mittelitalienischen Städtchen entgegen. Auf 830 Metern Höhe liegt Agnone in einer märchenhaften Landschaft der Region Molise, umgeben von Wäldern, Kirchen und andere geschichtsträchtigen Bauten. Doch Agnone ist vor allem berühmt für seine Glocken. Es gibt sie aus Schokolade und als Schreibtischzierde, aus Kuchenteig oder aus Käse geformt. In Lebensmittelläden, beim Tabakhändler, in Konditoreien und Käsereien – überall sind sie ausgestellt.
Aber es gibt sie auch in tonnenschwerem Großformat, nämlich als echte Kirchenglocken. Diese produziert die „Päpstliche Glockengießerei Marinelli“, gegründet im Jahr 1339, als eine der ältesten und renommiertesten der Welt, immer von derselben Familie betrieben. Päpstlich darf sie sich auf Geheiß von Papst Pius XI. seit 1924 nennen. „Wir sind auch die Einzigen mit Papstwappen auf den Glocken“, erklärt Armando Marinelli. Er ist stolz darauf, zusammen mit seinem Bruder Pasquale als erste Generation im dritten Jahrtausend die Glockengießerei der Familie weiterzuführen. Ja, bei Marinellis wird gern zurück- und gar in Jahrhunderten gedacht.
Wenn es um die nähere Zukunft geht, ist das Thema eher ein finanzielles. Weil Italien tief in der Krise steckt, kommen aus dem eigenen Land weniger Aufträge als früher. Und deshalb haben die Marinellis ihren Glockenexport, den sie immer schon hatten, weltweit ausgedehnt. Viel lieber wird in der Firma an die Vergangenheit erinnert. Die Gießerei gehört zum Weltkulturerbe der Unesco, weil sie ihre wunderschönen, mit Inschriften verzierten Glocken noch immer in spätmittelalterlicher Technik herstellt, also wie zu Beginn des 14. Jahrhunderts, als Nicodemo Marinelli als Erster der Familie Glocken formte. „Seitdem hat sich in der Produktion kaum etwas verändert“, bekräftigt einer der heutigen Besitzer. Klar, dass er auf seinem Schreibtisch gleich zwei besonders prachtvolle kleine Glockenexemplare stehen hat, mit denen er auch mal nach seiner Sekretärin klingelt – um sie in Bewegung zu halten und auch des schönen Klanges wegen.
Bei Marinelli gibt es also kein Fließbandverfahren und keine hocheffizienten Produktionsmaschinen. In der Gießerei sieht es immer noch so aus, wie historische Filme Handwerksbetriebe von früher zeigen. Im hauseigenen Glockenmuseum, das jährlich 30 000 Besucher anzieht, hängen Abbildungen von gestern und heute: Derselbe lang gestreckte Raum mit einfachen Sprossenfenstern, derselbe kahle Zementboden. Es ist ziemlich dunkel drinnen, Holzfeuer knistert, rechts und links Spaliere von aufgehängten Glocken. Große und kleine, fertig gegossene und halb fertige, auch solche aus Rohmaterial, die erst noch Glocken werden müssen.
Je nach Format dauern die Arbeitsschritte zwischen zwei und zehn Monaten. Diese sind äußerst kompliziert, unter Einsatz von Schablonen, Lehmziegeln, der sogenannten „falschen Glocke“ aus Lehmschichten und ihrem Mantel. Lange Zeiten des Trocknens liegen zwischen den einzelnen Arbeitsschritten. Mittels heißem Wachs werden die Inschriften im Positiv-und Negativverfahren aufgedruckt. Die mit Trennmitteln behandelte „falsche Glocke“ wird dann zerschlagen. In den entstandenen Hohlraum zwischen Kern und Mantel der Glocke gießt man schließlich die flüssige Bronze, ein Metall aus 78 Kupfer- und 22 Zinnteilen.
Dieser letzte Arbeitsschritt ist bei Marinelli von frommer Tradition begleitet. „Der heilige Ritus der Fusion“ wird er genannt. Ein Priester steht segnend vor dem Feuerofen. Die Bronzefusion, auf 1200 Grad Celsius aufgeheizt, wird in die Glockenform geleitet. Alle zwölf Mitarbeiter eilen herbei, stehen vor der Glut und beten laut Heiligen- und Marien-Litaneien. Und das je nach Auftragsdichte mehr als zehn Mal im Jahr!
Besuchern vergeht das Schmunzeln über den frommen Brauch, wenn Glockenmeister Antonio Delli Quadri ernst erklärt: „Der kleinste Fehler bei der Fusion der Glocke kann die Arbeit von Monaten kaputt machen.“ Und mitunter würden ja gleich fünf Glocken oder mehr gegossen. Erst Tage später, wenn diese abgekühlt sind, zeigt sich das wahre Resultat. Und erst dann beginnt die Feinarbeit mit dem Klang.
Meister Delle Quadri, jetzt 77 Jahre alt und seit seinem 17. Lebensjahr Glockenexperte, bietet Museumsbesuchern zum Abschluss der Tour ein kleines Konzert mit religiösen Weisen. Doch bis dieses Bimbumbam auf mehreren Glocken so perfekt melodisch und harmonisch abgestimmt klingt wie bei ihm, ist eine Menge Vorarbeit notwendig. Es kommt auf Größe, Gewicht und Durchmesser der Glocken und der Klöppel an, um die richtigen Töne erzeugen zu können.
„Ein Glockenbauer muss von vielen Wissenschaften eine Ahnung haben“, sagt Armando Marinelli geheimnisvoll. Was eine Glocke heutzutage kostet? „30 bis 35 Euro je Kilo“, heißt es in Agnone. Das Vorzeige-Produkt der Gießerei ist eine 100 Kilo schwere Bronzeglocke, die etwa 3000 Euro kostet, zuzüglich Installation und Lieferung. Aber etliche sind viel schwerer. Die berühmte Jubiläumsglocke etwa, die Marinelli zur Jahrtausendwende für den Vatikan herstellte, wiegt fünf Tonnen. Nach der feierlichen Segnung durch Johannes Paul II. auf dem Petersplatz wurde sie in den Vatikanischen Gärten installiert. Der polnische Papst hat übrigens in den 90er Jahren persönlich in der Gießerei einen Fusionsritus mit Segnung geleitet.
Längst gibt es natürlich auch Marinelli-Glocken, die den Päpsten Benedikt XVI. und Franziskus gewidmet und mit deren Wappen geschmückt sind. Auch der Uno-Sitz in New York hat eine. Wie Glocken aller Gießereien haben aber auch die historischen Marinelli-Produkte über Jahrhunderte hinweg oft viel zu früh das Zeitliche segnen müssen. In Kriegszeiten wurden viele bekanntlich eingeschmolzen und ihr Material für Kanonen oder sonstiges Waffenmaterial verwendet.
So viel Tradition und Blick zurück – das passt gut ins 5200-Einwohner-Städtchen Agnone mit 14 prachtvollen Kirchen und über 3000 kunstvollen Portalen, einem hübschen historischen Zentrum und einem antiken Amphitheater aus der Zeit des italischen Volksstammes der Samniten.
Kunststadt nennt sich Agnone stolz. Ihre Blütezeit war unter den Langobarden ab 1000 n. Chr., mit florierendem Kunsthandwerk in der Verarbeitung von Kupfer, Eisen, Gold und Leder bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Danach kam die Einheit Italiens – und ruinierte Agnone. Plötzlich lag das Städtchen abseits. 1871 hatte es noch mehr als 11 000 Einwohner. Dann wanderten immer mehr Menschen aus nach Nord- und Südamerika, nach Australien, nach Nordeuropa und Norditalien. Trotzdem war das Städtchen auf manchem Gebiet auch durchaus fortschrittlich. Elektrischen Strom hatte es acht Jahre früher als Rom, nämlich schon im Jahr 1905. In den letzten Jahren wurde mit Agrotourismus, Reiterhöfen, Hotels und originellen Bed-and-Breakfast-Pensionen eine neue Urlaubskultur aufgebaut.
Doch Agnone will viel mehr. Es will die Entvölkerung stoppen und wieder mehr Leben in seinen Gassen haben. Die vielen Glocken in der Stadt sollen wieder für mehr Menschen läuten. „Bei uns ist es genauso schön wie in der Toskana und in Umbrien, wo viele Ausländer Grundbesitz kaufen“, sagt Domenico Lanciano. Viele Häuser und Wohnungen der ausgewanderten Agnone-Bewohner stehen leer, sind teils schon renoviert worden oder stehen auf der Warteliste. Bauernhäuser gibt es fast gratis, Wohnungen für Preise weit unter 100 000 Euro.
Vier holländische Familien haben sich bereits angesiedelt, die jeweils mehrere Monate im Jahr in dem kleinen Städtchen leben. Der Tourismusexperte Lanciano meint, Agnone sei leicht zu erreichen: „Es liegt doch nur rund 250 Kilometer südlich von Rom“, sagt er und hofft dabei, dass auch bei reiselustigen Deutschen ein Glöckchen klingelt.