Am 30. Juli 1984 wird Maria Köhler zwischen 12 und 13 Uhr in ihrem Wohnheim-Zimmer in Aschaffenburg mit einem Schal stranguliert. Zwei Tage später findet eine Vorgesetzte die Leiche der 19-jährigen Krankenschwesterschülerin. Seit 40 Jahren ist Maria Köhlers damals 25-jähriger Ex-Freund dringend tatverdächtig - aber untergetaucht: Nazmi Gezginci, ein gebürtiger Türke, der inzwischen staatenlos ist. Jetzt soll er endlich gefasst werden. Helfen soll dabei ein Fahndungsaufruf in der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY" an diesem Mittwoch.
Detaillierte Rekonstruktion der Tat: Mord aus Eifersucht?
Bereits im Februar hatte die Kriminalpolizei Medienvertreter zu einer Pressekonferenz geladen, von der bis zur Sendung nichts nach außen dringen durfte. Die Aschaffenburger "Cold Case"-Ermittler Jörg Albert und Mike Schloth stellten den Fall vor. Sie gehen von Eifersucht als Motiv aus. Ihre Rekonstruktion ist im wahrsten Sinne des Wortes minutiös.

Der Tatverdächtige reist demnach am 12. Dezember 1978 als Tourist in die Bundesrepublik ein und beantragt eine Aufenthaltserlaubnis für ein Studium. Er heiratet eine Deutsche, nach nur anderthalb Jahren reicht die Frau die Scheidung ein. 1981 muss Nazmi Gezginci wegen eines ausländerrechtlichen Verstoßes 300 D-Mark Strafe zahlen.
"Er wollte sie heiraten, dass er hier bleiben kann."
Marias Schwester über den Tatverdächtigen
Schließlich kommt er mit Maria Köhler zusammen. Will er auch sie heiraten, um in Deutschland bleiben zu können? Die Ermittlungen legen das nahe, sagt die Polizei. "Er wollte sie heiraten, dass er hier bleiben kann", bestätigt Marias Schwester am Rande der Pressekonferenz. Doch Maria sei das zu früh gewesen, sie habe andere Pläne gehabt, wollte in Afrika arbeiten.

Am 19. Juli 1984, keine zwei Wochen vor der Tat, bekommt Gezginci eine Ausreiseverfügung zugestellt. Er hat einen Monat Zeit, die BRD zu verlassen. Maria hat da schon einen neuen Freund, einen in Hanau stationierten US-Soldaten. Am Morgen des Tattags bringt sie ihn zum Aschaffenburger Hauptbahnhof, er muss zum Dienst in seine Kaserne.
Verdächtiger lauerte Maria am Tattag mehrmals auf
Um 8.04 Uhr klemmt in Bahnhofsnähe eine Polizeihostess, wie Mitarbeiterinnen der Parkraumüberwachung damals genannt werden, einen Strafzettel an einen Mazda. Es ist das Auto von Gezginci, der gegen 8.40 Uhr von einer Zeugin in der Nähe des Schwesternwohnheims beobachtet wird.

Zweimal wird der 25-Jährige an diesem Vormittag auch mit Maria in der Aschaffenburger Innenstadt gesehen. Um 11.30 Uhr kommt es dort zwischen den beiden offenbar zu einem lautstarken Streit. Eine Zeugin geht dazwischen, Maria kann fliehen. Den Ermittlern zufolge erinnert sich die Frau auch 40 Jahre später noch an ihren Eindruck damals: Maria hat Angst.
Eine halbe Stunde später wird Gezginci erneut beobachtet, wie er am Schwesternwohnheim herumschleicht. Etwa zur gleichen Zeit geht die 19-Jährige dort in ihr Zimmer im fünften Stock.
Schwester erinnert sich: Maria glaubte, sie wird nicht lange leben
Auch 40 Jahre später lässt die Tat Marias Familie nicht los. "Es wird leichter mit der Zeit, aber vergessen kann man nie", sagt eine der beiden Schwestern. Alle paar Jahre habe sie bei der Polizei angerufen und nach den Ermittlungen gefragt. Dass der Fall nun wieder aufgerollt wird, habe sie überrascht.
"Ich habe damals gleich gedacht, er war das", sagt die heute 67-Jährige mit Blick auf den Tatverdächtigen. Maria habe nach der Trennung von Gezginci immer wieder gesagt, "ich werde nicht lange leben" - ohne Erklärung. "Wir haben das damals nicht ernst genommen." Sie glaube heute, dass ihre Schwester bedroht wurde.

Maria ist erst wenige Minuten tot, als Nazmi Gezginci nach 13 Uhr zufällig eine Bekannte trifft und sie zur Arbeit fährt. Auf die Frau wirkt er nervös. Um 16.45 Uhr kauft Gezginci einen Koffer und begegnet dabei einem Bekannten. Dem erzählt er, er habe einen Anruf aus der Türkei erhalten und müsse sofort dorthin. Um 17 Uhr kommt Gezginci nach Hause. Gegen 22.30 Uhr sieht ihn ein Zeuge am Schwesternwohnheim vorbeifahren.
Mit 420 D-Mark Flugticket in die Türkei gekauft
Am 31. Juli, dem Tag nach der Tat, stellt Gezginci seinen Mazda am Frankfurter Flughafen im Halteverbot ab. Für 420 D-Mark kauft er für denselben Tag ein One-Way-Ticket für den Turkish-Airlines-Flug nach Istanbul. In der Türkei verliert sich seine Spur.

Zwar wird Nazmi Gezginci seit dem 2. August 1984 per Haftbefehl gesucht. In der Türkei sind die Interpol-Ermittlungen jedoch längst eingestellt worden: Nach türkischem Recht verjährt Mord nach 15 Jahren.
Umso größer ist die Hoffnung der unterfränkischen Polizei jetzt, Marias mutmaßlichen Mörder doch noch zu finden. Die "Cold Case"-Ermittler Albert und Schloth halten es jedenfalls für möglich, dass er im Zuge der Flüchtlingsbewegungen seit 2015 unter falscher Identität wieder nach Deutschland gekommen ist.
Neue genetische Analysemethoden: DNA-Spur untermauert Tatverdacht
Der Verdacht gegen Gezginci ist so groß wie nie: Mit neuen Methoden sei eine DNA-Spur untersucht worden, sagen die Ermittler. Zur Art und Herkunft dieser Spur wollen sie sich derzeit nicht näher äußern. Man habe bei einer Phänotypisierung aus dem Erbgut körperliche Merkmale ermittelt können - unter anderem Alter, Haar-, Augen- und Hautfarbe. Das Ergebnis deute auf den heute 65-Jährigen hin und untermauere den dringenden Tatverdacht.
Noch am Mittwochabend, während der Sendung "Aktenzeichen XY", wollte ein 18-köpfiges Ermittlerteam auf das bekannte Umfeld Gezgincis zugehen. Einige Personen seien für deutsche Behörden greifbar. Man habe sie aber bislang nicht kontaktiert, um nicht Gefahr zu laufen, dass der Tatverdächtige gewarnt wird.
Fahndungsaufruf der PolizeiNazmi Gezginci ist heute 65 Jahre alt, geboren wurde er im türkischen Antakya. Er ist 1,94 Meter groß und spricht türkisch, arabisch und deutsch. Spitznamen: Ahmet, Nazim, Yilmaz.Die Polizei sucht Zeugen, die wissen, wo sich Gezginci nach Juli 1984 aufgehalten hat oder wo er heute lebt. Auch aktuelle Fotos des Gesuchten sind von Interesse.Für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen, wurde eine Belohnung in Höhe von 10.000 Euro ausgesetzt. Hinweise werden vertraulich behandelt und können auch in türkischer und arabischer Sprache mitgeteilt werden.Zeugen werden gebeten, sich über die kostenfreie Hinweisnummer Tel. (0800) 1011-611 oder per E-Mail unter cold-case-maria@polizei.bayern.de an die Kriminalpolizei Aschaffenburg zu wenden.Quelle: Polizeipräsidium Unterfranken/Staatsanwaltschaft Aschaffenburg