Tapeten mit großen, bunten Mustern, stark gemusterte Badfliesen in Brauntönen, Waschbetonkästen, in denen die Mülltonnen versteckt wurden. All das sind Kennzeichen des Geschmacks und Baustils der 70er Jahre. Es geht noch weiter: Teppichboden, Xylamon, Kunststofffenster mit dicht schließender Gummilippe. Und dann die langen Reihen von Sammelgaragen und das typische Beton-Verbundpflaster auf den Wegen, die von den Straßen zu den Reihenhäusern führen.
Diese Aufzählung findet sich in der Karlstadter Siedlung östlich der Bodelschwinghstraße wieder. In kürzester Zeit war das Gelände des Tiefenwegs mit seinen Seitenstraßen fast vollständig bebaut worden. Karl-Heinz Keller war ab 1973 Leiter der Bauverwaltung im Karlstadter Rathaus und setzte weiter um, was zuvor in die Wege geleitet worden war: das Baugebiet am Tiefenweg.
Aus der engen Altstadt
„Anfang der 60er Jahre war der Druck nach mehr Wohnraum immer größer geworden“, erinnert er sich. Eine Reihe von Faktoren sei zusammengekommen: In der Altstadt wohnten die Menschen beengt. Die alten Häuser waren oft sanierungsbedürftig. Es gab viel Verkehr in der Altstadt. Die Hauptstraße war noch Bundesstraße, aber auch die Gassen waren voller Autos.
In der Siedlung zwischen der Bahn und der späteren Bodelschwinghstraße waren in den 30er Jahren die ersten Häuser entstanden. In den 50er und 60er Jahren nahm die Bautätigkeit zu. Karlstadt wuchs. Viele Menschen aus dem Osten siedelten sich an. Schrittweise wurden nach Bedarf neue Häuser gebaut. In den 70er Jahren jedoch explodierte Karlstadt mit dem neuen Baugebiet am Tiefenweg förmlich.
Vorangegangen waren Studien zur Frage, wie sich Karlstadt erweitern könnte. So wurden zwei neue Siedlungsschwerpunkte vorgesehen: Karlstadt Ost bis fast zum Fuß des Saupurzels und Karlstadt Nord im Hirschfeld. Dafür fanden Planungsstudien statt, eingereicht von Büros aus Heidelberg, Bern und zweien aus Darmstadt. Nachzulesen ist das Ergebnis in der Fachzeitschrift „Baumeister“ vom September 1966.
Einleitend heißt es dort: „Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs Karlstadt um fast 3000 Einwohner (100%), die sich in einem städtebaulich unbefriedigenden Stadtgefüge, dem Einfamilienhausquartier östlich des Bahnkörpers, ansiedelten. Die Fehler dieser Zeit hektischer und fast unkontrollierter Bautätigkeit sollen durch die Ausarbeitung eines Leitplanes (Geltung bis 1990) in Zukunft vermieden werden.“
Ziel der Planung waren nur 55 Prozent Eigenheime und 45 Prozent Mietwohnungen, von denen wiederum nur fünf Prozent Ein- und 15 Prozent Zweizimmerwohnungen sein sollten – die Familien waren größer und es gab weniger Singles. Wie Keller im Stadtarchiv herausgefunden hat, war man davon ausgegangen, dass Karlstadt von etwa 6000 Einwohnern auf rund 6900 im Jahr 1975 und 7800 im Jahr 1990 wächst. Im Endstadium sollte die Stadt – von Eingemeindungen war da noch keine Rede – 10 000 Einwohner haben. Tatsächlich sind es heute 7363 – Tendenz rückläufig.
Zeitgeist in Beton
Die Büros planten damals hauptsächlich mit verschachtelten quaderförmigen Gebäuden, allesamt mit Flachdächern, damals der letzte Schrei. Beim Durchblättern der Zeitschrift begegnet einem der Zeitgeist der damaligen Architektur: Gebäude aus blankem Beton, rechteckig und nüchtern. Am konsequentesten wurde das in Karlstadt beim Bau der Heiligen Familie umgesetzt, die schon 1967 eingeweiht wurde. Aber auch die Realschule (1970 eröffnet), die Hauptschule und das Gymnasium (beide 1976 eröffnet) sowie das neue Rathaus (Fertigstellung 1974) offenbaren diesen Stil.
Umgesetzt wurde letztlich nur der Siedlungsschwerpunkt Ost, jedoch nicht nach den Vorschlägen der Planungsstudien. Die waren zu modern, zu revolutionär. Den Stadtrat hatte der Mut verlassen. Man ließ das Baugebiet vom Büro Petz (Marktheidenfeld) planen. Keller zitiert die Begründung: „Es besteht die Gefahr, dass das Heidelberger und das Berner Büro eine Planung erstellen, die sich in Karlstadt nicht realisieren lässt.“
Auf der Fläche von zwölf Hektar wurden 330 Wohneinheiten geplant – neben ein paar Wohnblocks ausschließlich Reihenhäuser. Die Stadt selbst hatte 3,5 Hektar eingebracht, kaufte aber viel Land auf, um später keine Baulücken entstehen zu lassen. Bei 18 Mark pro Quadratmeter und nur 300 bis 400 Quadratmeter großen Grundstücken waren die Bauplätze erschwinglich. 1967 hatten sich schon knapp 50 Bauwillige gemeldet. 1970 begann die Erschließung, die Bebauung folgte sofort.
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