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Karlstadt: Ankunft in Karlstadt: Viele Sudetendeutsche fanden eine neue Heimat

Karlstadt

Ankunft in Karlstadt: Viele Sudetendeutsche fanden eine neue Heimat

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    Bis zu 14 Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene kamen ins Nachkriegsdeutschland. Sie stammten aus Ostpreußen und Schlesien, ein weiterer großer Teil kam aus dem Sudetenland (Symbolbild).  Per Güterzug erreichten 1946 hauptsächlich sudetendeutsche Vertriebene Karlstadt.
    Bis zu 14 Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene kamen ins Nachkriegsdeutschland. Sie stammten aus Ostpreußen und Schlesien, ein weiterer großer Teil kam aus dem Sudetenland (Symbolbild).  Per Güterzug erreichten 1946 hauptsächlich sudetendeutsche Vertriebene Karlstadt. Foto: Foto Ahles

    Im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 billigten drei Siegermächte (GB, Sowjetunion, USA) die Zwangsausweisung von Deutschen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Dies sollte in »geordneter und humaner Weise« erfolgen. In der Realität war sie - auf aufgrund deutscher Kriegsgräueltaten - mitunter von Rache und Hass getrieben.

    Bayern, ein Teil der US-amerikanischen Besatzungszone, wurde für besonders viele Sudetendeutsche zur neuen Heimat. Diese deutschsprachige Volksgruppe hatte über Jahrhunderte in den Randgebieten Böhmens, Mährens und Schlesiens, was dem Grenzgebiet der heutigen Tschechischen Republik entspricht, gelebt und zählte etwa drei Millionen Menschen (siehe Karte). In vier Etappen lässt sich die Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung einteilen. Von Mai bis August 1945 fand die »wilde«, von Mitte August bis Ende 1945 die »gelenkte« und von Januar bis November 1946 die »organisierte« Vertreibung statt. Danach kam es noch bis 1949 zu Nachausweisungen.  

    Erste Nacht auf Tischen oder dem Fußboden

    Per Güterzug erreichten 1946 hauptsächlich sudetendeutsche Vertriebene Karlstadt. Erschöpft, verdreckt und einem Koffer mit den Habseligkeiten ihres früheren Lebens stiegen sie am Bahnhof aus. Sie wurden dann vom Rote Kreuz in der Kantine des Zementwerks verpflegt und übernachteten dort auf Tischen oder dem Fußboden. Die Ernährungssituation war desolat. Der eisige Winter 1946/47  ging als »Hungerwinter« in die Geschichte ein und Lebensmittel wurden rationiert. In der amerikanischen Besatzungszone war der tägliche Bedarf auf 1330 Kalorien festgelegt.

    Zeitzeugen berichten:Die damals 10-jährige Rosa K. berichtet von ihrer Ankunft in Karlstadt am Allerheiligentag: "Bei bitterer Kälte wurden wir 14 Tage lang zwischen dem Karlstadter Bahnhof und der Zementfabrik hin und her rangiert. Nicht nur der Hunger und die Kälte waren furchtbar, sondern auch vor allem die Ungewissheit: Wohin kommen wir? Werden wir weiterfahren oder nicht? Ich erinnere mich auch noch daran, dass die Kinder von unserem Transport auf den Gleisen spielten und die Mütter immer Angst hatten, dass ihre Kinder von den Wagen überrollt würden oder in dem Chaos verloren gingen."Quelle: Barbara Lasar

    Allein 1946 musste für 3763 Vertriebene in Karlstadt und dem Umland eine vorläufige Bleibe gefunden werden. Einige wurden zunächst in Lagern in Zellingen und Thüngen untergebracht. Diese existierten bis 1950 und waren eine »Brutstätte der Lethargie«, wie eine Mitarbeiter des Roten Kreuzes meinte, »wo das Leben mangels Privatsphäre quasi in der Öffentlichkeit stattfand«.

    Zeitnah sollten die Neuankömmlinge möglichst gleichmäßig über Bayern verteilt und menschenwürdiger Wohnraum gefunden werden. Um diese Herkulesaufgabe zu stemmen, setzte die bayerische Regierung Wolfgang Jaenicke (1881 - 1968) als Staatskommissar für Flüchtlingswesen ein. Ihm unterstanden die Regierungskommissare der ehemals fünf Regierungsbezirke. Sie arbeiteten nicht nur mit Jaenicke zusammen, sondern auch mit dem Ernährungsamt und medizinischen beziehungsweise kirchliche Institutionen, wie dem Roten Kreuz oder der Inneren Mission.

    In den Städten und Landkreisen war je ein Flüchtlingskommissar den Bürgermeistern und Landräten zugeteilt. Bevollmächtigt durch das Flüchtlingsnotgesetz konnten sie Wohnungen zuweisen und notfalls beschlagnahmen. "Eine angenehme Tätigkeit", wie Josef Klug, einstiger Flüchtlingskommissar aus Karlstadt, ironisch meinte. Manchmal konnte dies nur mit Hilfe von Behörden, Polizei oder der US-amerikanischen Militärpolizei durchgesetzt werden. Konflikte waren vorprogrammiert. 1952 zählte Rohrbach 387 Einwohner, davon waren 109 Vertriebene.

    Zeitzeugen berichten:Marga M., die Tochter des Altbürgermeisters in Rohrbach, erinnert sich an die Ankunft der Vertriebenen in Rohrbach: "Die Flüchtlinge wurden auf offenen Lastwagen nach Rohrbach transportiert und sind beim Lindenbaum in der Dorfmitte abgestiegen. Dann ging mein Vater mit den Gemeinderäten im Dorf auf Wohnungssuche, wobei es auch Streit gab, da einige Leute niemanden aufnehmen wollten. Trotzdem wurden alle Familien auf die Bauernhöfe verteilt. Öfters mussten Familien auf mehrere Zimmer aufgeteilt werden oder es lebten zwei Familien in einem Raum, der durch einen Kreidestrich als Grenze die Wohnparteien trennte. Zeitweise lebten circa 100 Flüchtlinge im Ort, was eine große Belastung für beide Seiten war."Quelle: Barbara Lasar

    Zwar boten die Bauerngemeinden den Vertriebenen anfänglich eine bessere Wohnungssituation, da es auf den Dörfern kaum Kriegsschäden gab und Nahrung quasi vor der Haustür wuchs. Arbeitsplätze hingegen waren größtenteils in der Stadt zu finden. Um den entwurzelten Menschen auf Dauer eine Bleibe und Perspektive zu bieten, reagierte 1948 der Freistaat Bayern auf die Wohnungsnot mit einem Sonderbauprogramm. Der Landkreis Karlstadt ließ 1950 in der Karlstadter Siedlung zunächst drei Wohnhäuser in der Querfurtstraße für 24 Familien, vorwiegend aus Gauaschach, bauen.

    Ein Jahr später kamen drei weitere Wohnhäuser dort hinzu. Bauherr war die Stadt Karlstadt. Ebenfalls 1951 wurden durch die Finanzverwaltung zwei Häuser und vom St.Bruno-Werk ein Acht-Familien-Haus fertiggestellt. In der Ostland- bzw. Johann-Zahn Straße entstand zur gleichen Zeit die »Schlesier-Siedlung« mit zehn Einfamilienhäusern. Dort kamen drei weitere städtische Mehrfamilienhäuser und ein Gebäude der Firma Gummi-Mayer, einem großen Arbeitgeber jener Zeit, für etwa 40 Familien hinzu.

    Privater Wohnungsbau wurde gefördert

    Massiv wurde auch der private Wohnungsbau von staatlicher Seite gefördert, denn laut Regierungserklärung vom 20. September 1949 diente die Schaffung von Wohnraum der "sozialen und ethischen Gesundung des deutschen Volkes". Ein Eigenheim kostete Anfang der 1950er etwa 30.000 DM. Der Quadratmeterpreis lag bei etwa drei DM. Per Soforthilfegesetz erhielt der Bauherr 2000 DM, kinderreiche Familien sogar ein zinsloses Darlehen.

    Mit Fleiß und einem großen Maß an Eigenleistung wurde in der Karlstadter Siedlung Haus um Haus gebaut und die Neubürger konnten endlich Wurzeln schlagen. Dennoch standen 1950 nur 27,8 Prozent von 1000 vertriebenen Wohnparteien ein Kochraum zur Verfügung. Diese finanzielle Unterstützung wurde von einigen Einheimischen neidvoll betrachtet, denn in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit gab es nicht viel zu verteilen.

    Auch die berufliche Eingliederung zeigte sich als große Herausforderung und führte wegen des Mangels an Arbeitsplätzen zu Konkurrenz zwischen Alteingesessenen und Neubürgern. In Karlstadt existierten 1945 nur zwei Industriebetriebe. Das Zementwerk Schwenk sollte demontiert und an die Sowjetunion ausgeliefert werden. Teile der Fabrik waren bereits zum Abtransport nummeriert. Die amerikanischen Besatzer verhinderten dies, doch die Produktion startete danach nur zögerlich.

    Das Eisenwerk Düker war während des Krieges Munitionsfabrik und musste in Friedenszeiten wieder für die Produktion des täglichen Gebrauchs, wie Öfen, Herde, Rohre, umgerüstet werden. Auch hier liefen die Prozesse erst langsam an. Demzufolge standen nur eine begrenzte Zahl an Arbeitsplätzen zur Verfügung. Im landwirtschaftlich strukturierten Umland gab es bestenfalls saisonale Arbeit. Viele Vertriebene hielten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und lebten eigentlich von der Hand in den Mund.  

    Zeitzeugen berichtenHerbert K., Heimatvertriebener erzählt von seinem Leben als junger Mann in Rohrbach: "Ende der 1940er Jahre waren hauptsächlich Sudetendeutsche bei Düker beschäftigt. Meine Schicht ging von 4 bis 12 Uhr. Da ich in Rohrbach wohnte, musste ich mitten in der Nacht aufstehen und zu Fuß etwa 7 km nach Karlstadt laufen. Wenn ich mittags nach Hause kam, war ich natürlich müde und ruhte mich am Nachmittag aus. Daher wurde behauptet, dass ich faul sei, da ich nicht auf dem Feld mitarbeitete."Quelle: Barbara Lasar

    Für etliche Heimatlose begann mit dem beruflichen und auch der soziale Abstieg, obwohl sie sie gut ausgebildete Handwerker und Facharbeiter in der Glas-, Leder-, Keramik-Branche waren. Nur wenige konnten in ihren ehemaligen Berufen arbeiten. Dass ein Landwirt - ohne Einheirat - wieder einen eigenen Betrieb aufbaute, war eine Seltenheit. Manchmal gelang dies noch Beamten und Lehrern. Trotzdem empfand die Lehrerin Getrud K. ihr Leben nach der Vertreibung "wie ein Sturz vom Himmel in die Hölle".

    Hubert Jagusch kam als Flüchtling aus Breslau nach Karlstadt. In der Dükerstraße hat er sich ab dem Frühjahr 1956  ein Haus gebaut.
    Hubert Jagusch kam als Flüchtling aus Breslau nach Karlstadt. In der Dükerstraße hat er sich ab dem Frühjahr 1956  ein Haus gebaut. Foto: Repro Merklein

    Dennoch gelang es einigen Sudetendeutschen in Karlstadt ihren Betrieb wieder aufzubauen. Paradebeispiel hierfür ist das Traditionsunternehmen Dotzauer für Metallblasinstrumente. Ausgerüstet mit einem Werkzeugkoffer und Beharrlichkeit entschloss sich Dotzauer senior 1947 wieder Instrumente zu bauen - trotz fehlendem Startkapitals und einem Mangel an allem, was er zum Handwerk benötigte.

    Maßgebliche Unterstützung erhielt er, wie alle Vertriebenen, durch das Lastenausgleichsamt. Dieses gewährte Soforthilfe zum Lebensunterhalt und ein Aufbaudarlehen. Natürlich musste Dotzauer einen Nachweis seiner beruflichen Qualifikation erbringen. Obwohl er wenig materielle Sicherheit bieten konnte, gewährte ihm seine Hausbank ein günstiges Darlehen. Er konnte eine Fabrikhalle am Stationsweg in den 1950ern beziehen. Dort ist der Betrieb heute noch ansässig und in der Musikbranche weltweit bekannt.  

    Eine weitere »Karschter«-Sudetendeutsche Erfolgsgeschichte war das legendäre Torturmkaufhaus. Der junge Kaufmann Stockleb kam im Mai 1946 nach Eußenheim, wo er einen Textilladen eröffnete. Seine Karriere begann mit Kiefernzapfen. Von der Familie im Dorfwald gesammelt und mit Goldbronze bemalt wurden sie als Christbaumschmuck zum Weihnachtsfest 1946 der Verkaufsschlager. So erinnert sich ein Eußenheimer. Auf Fürsprache des Karlstadter Pfarrers Stangl konnte die Familie zwei Jahre später in die Stadt ziehen und ihr Kaufhaus, eine Karlstadter Institution, aufbauen.

    Ein »dicker Fisch« entging jedoch Karlstadt, als ein Vertreter einer nordböhmischen Strumpffabrik bei der Stadtverwaltung vorstellig wurde, mit Bitte eine Niederlassung aufzubauen. Im Rathaus war man jedoch der Meinung: »Karlstadt hat Zement und braucht keine Strümpfe.« Daraufhin ließ sich die Firma Kunert, für deren Produkte bereits 1930 Marlene Dietrichs geworben hatte, im Allgäu nieder. 

    Angekommen in der neuen Heimat: Der sudetendeutsche Vertriebene Adolf Link heiratete die gebürtige Lohrerin Gunthild  Büdel. Adolf Link war Lehrer in Rohrbach, Karlstadt und zu seiner Pensionierung 1989  in Wiesenfeld. Heute lebt er in Bad Kissingen, Gunthild Büdel ist 2016 gestorben. 
    Angekommen in der neuen Heimat: Der sudetendeutsche Vertriebene Adolf Link heiratete die gebürtige Lohrerin Gunthild  Büdel. Adolf Link war Lehrer in Rohrbach, Karlstadt und zu seiner Pensionierung 1989  in Wiesenfeld. Heute lebt er in Bad Kissingen, Gunthild Büdel ist 2016 gestorben.  Foto: Repro Barbara Lazar

    1950 waren etwa 15 bis 20 Prozent der Einwohner in den Altlandkreisen Karlstadt, Gemünden und Lohr Vertriebene, in Marktheidenfeld sogar 20 bis 25 Prozent (Quelle: Staatskommisariat für das Flüchtlingswesen). Letztendlich gelang die Integration so vieler Neubürger nicht nur über staatliche Hilfen, sondern über das menschliche Miteinander wie in Schulen, Vereinen, Parteien, durch Freundschaften und Heirat. Ein solides Fundament bildete die gemeinsame Sprache, auch wenn der sudetendeutsche Dialekt "a weng" ungewöhnlich in fränkischen Ohren klang.

    Sicherlich war es für junge Vertriebene im Nachkriegsdeutschland einfacher als für ältere, ein neues Leben aufzubauen. Das Allensbach-Institut stellte die Frage: Wenn morgen ihre Heimat wieder zu Deutschland gehörte, würden sie dann zurückkehren? 1957 wollten 41 Prozent in die alte Heimat zurück. 1959 waren es 38 und fünf Jahre später nur noch 27 Prozent. Der Rest ließ die Antwort offen oder wollte auf keinen Fall seinen neuen Lebensmittelpunkt verlassen.

    Zur Autorin: Barbara Lasar hat vor 38 Jahren damals unter ihrem Mädchennamen Barbara Link ihre Facharbeit am Johann-Schöner-Gymnasium über das Thema der Eingliederung der Sudetendeutschen Im Stadtgebiet im Leistungskurs Geschichte geschrieben. Diese wurde von der VHS Karlstadt veröffentlicht. Sie ist die Tochter einer gebürtigen Lohrerin und eines sudetendeutschen Vertriebenen, der Lehrer in Rohrbach war.

    Lesetipp: Den Einstieg in die Serie verpasst? Die bisher erschienenen Serienteile finden Sie unter https://www.mainpost.de/dossier/geschichte-der-region-main-spessart/

    Quellen: Die Arbeit beruht auf Aussagen von Zeitzeugen in den 80er Jahren.

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