Noch ist der Eingang zum Neubau "An den Birken 1" provisorisch angelegt. Ein Klingelschild ist aber bereits beschriftet: "Wohngruppe" steht handschriftlich auf dem Klebestreifen. Nach sieben Jahren Vorlaufzeit haben Alessandra Schnarr, Andre Brönner, Jana Schreck, Marco Babl, David Kasamas und Jonah Kuhn ihre Wohnung im Sozialen Wohnungsbau der Stadt Marktheidenfeld im Oktober 2023 bezogen. Seitdem teilen sich die sechs Menschen im Alter zwischen 22 und 38 Jahren rund 240 Quadratmeter Wohnraum. Das Besondere: Sie alle haben eine geistige Behinderung und werden ambulant betreut.
2021 gab der Stadtrat dem Projekt grünes Licht
Im Jahr 2021 hatte der Stadtrat dem Projekt grünes Licht gegeben. Initiiert wurde es von der Lebenshilfe Main-Spessart und auf Wunsch einzelner Bewohner und Eltern. Die Aufbauarbeit leistete die Bereichsleitung Wohnen und die Leitung der Ambulant Unterstützten Wohnformen (AUW) gemeinsam mit der Gruppe Betroffener und deren Eltern.

"Man kann nicht hoch genug würdigen, dass sich die Stadt auf das Projekt eingelassen hat", sagt Lebenshilfe-Geschäftsführerin Gaby Hofstetter, die auch an diesem Tag in die WG gekommen ist. Mit dem Neubau habe man ideale Voraussetzungen gehabt. So konnte die Fläche auf die Bewohner zugeschnitten werden. Heraus gekommen sind sechs Zimmer, drei Bäder, ein großer Wohnbereich mit offener Küche und ein Balkon.
"Man kann nicht hoch genug würdigen, dass sich die Stadt auf das Projekt eingelassen hat."
Lebenshilfe-Geschäftsführerin Gaby Hofstetter
Dass Alessandra, Andre, Jana, Marco, David und Jonah bereits vor allen anderen Mietern des Sozialbaus ihre Wohnung beziehen konnten, lag daran, dass Betreuungskräfte für die ambulante Unterstützung eingestellt werden mussten. Um hier rechtzeitig Personal zu suchen und zu finden, musste irgendwann ein Zeitpunkt festgelegt werden.
Noch ist der Weg durch das überwiegend unbewohnte Haus ein einsamer
So ist der Weg durch das überwiegend unbewohnte Haus hoch hinauf in den obersten Stock noch ein einsamer. Oben angekommen aber dringen aus der geöffneten Wohnungstür bereits Stimmen. Im Türrahmen steht Alessandra. Mit einem breitem Lächeln winkt sie herein in die WG.

Um 18 Uhr dreht sich hier alles um das Abendessen. Bevor sich alle um den großen hölzernen Esstisch verteilen, wird vorbereitet. Schinkennudeln mit Salat stehen auf dem Speiseplan. Während Alessandra den Schinken in Streifen schneidet, zupft Jana den Salat, Andre rührt die Salatsoße an.
Auch Manuela Hart ist da. Sie ist eine von sechs Teilzeitkräften, die sich den Schichtdienst in der WG teilen. Der ist so angelegt, dass immer zu den Kernzeiten morgens und abends jemand da ist. Am Wochenende auch bereits nachmittags. Für Notfälle nachts gibt es eine Rufbereitschaft. Heute Abend steht Manuela Hart mit in der Küche, assistiert mal hier, mal da, beantwortet Fragen oder gibt kleine Tipps.

Wichtig für ihr tägliches Tun: Es geschieht nichts ohne die Bewohner. "Jeder soll maximal selbstbestimmt und selbstständig leben können in der WG", sagt Jürgen Brönner, Vater von Andre und Vorsitzender des Vereins "Gemeinsam wohnen mit Handicap", den Bewohner, Eltern und Unterstützer gegründet haben. Die Betreuungskraft gibt also lediglich Hilfestellung beim Einkaufen, Kochen, Waschen, Aufräumen und Saubermachen. Darüber hinaus sind sie Ansprechpartner für alle Fragen und Nöte. Finanziert werden die Betreuungsleistungen durch Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherungen.
"Das Schwierigste war, die Eltern davon zu überzeugen, dass so etwas funktioniert."
Wilhelm Singer-Lutz, ehemalige Leiter Wohnen der Lebenshilfe Main-Spessart
Sind keine Betreuer da, sind die WG-Bewohner auf sich alleine gestellt. "Einen gewissen Zeitraum alleine sein zu können, das war auch Bedingung des Konzepts", erzählt Wilhelm Singer-Lutz. Er ist der ehemalige Leiter Wohnen der Lebenshilfe Main-Spessart und hilft nun im Ruhestand als Betreuer in der WG mit.
Er erinnert sich, wie es 2015/2016 die ersten Gespräche zur WG gab. Damals waren mehrere Familien im Raum Marktheidenfeld auf der Suche nach Wohnmöglichkeiten für ihre Kinder. Da das Wohnheim langfristig belegt war, wurde gezielt nach Wohnraum für eine ambulant unterstützte Wohngemeinschaft gesucht.

"Das Schwierigste war, die Eltern davon zu überzeugen, dass so etwas funktioniert", so Singer-Lutz. So seien am Anfang mehrere Familien dabei gewesen, dann aber teils ausgestiegen. "Den einen dauerte es zu lange, andere wollten eine 24-Stunden-Betreuung", erzählt er. 2018 hatte sich die Gruppe dann gefunden. In mehreren Wochenend-Workshops lernten sich Bewohner und Eltern kennen, um sich auf das selbstständige Wohnen vorzubereiten.

Als der Einzug im Herbst 2023 dann endlich bevor stand, war die Aufregung dennoch groß: "Am Anfang war noch einiges improvisiert, es gab gelegentlich nur kaltes Wasser, die Fenster waren mit Folien abgehängt", erzählt Gaby Hofstetter. Und auch wenn sich die WG-Mitglieder durch ihre Arbeit und die Workshops kannten, mussten sie zunächst einmal ihren Platz in der WG finden. "Ich habe als Erstes eine Staubsauger-Anleitung geschrieben", erzählt David, der sich rasch als Tüftler und Techniker erwies. Mitbewohner Jonah gilt mittlerweile als bester Salatsoßen-Macher und Alessandra hat gerne Menschen um sich. So wünscht sie sich manchmal mehr Gesellschaft auf dem großen roten Ecksofa.
Eltern-Wunsch: Dass die WG zum Modellprojekt wird
Der Auszug daheim und der Einzug in die WG sei ein Schritt für beide Seiten gewesen, Kinder als auch Eltern, erzählt Vater Brönner. Dafür sei die WG-Größe ideal, ähnlich einer großen Familie. Sie gibt Halt, aber es gibt auch Konflikte, die ausgefochten und gelöst werden müssen.
Gut findet er auch, dass die Wohnlage ihren Bewohnern sehr viel Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht: In fünf Minuten sei man in der Stadt, könne alles erlaufen, Eis essen gehen, spazieren, unter Menschen kommen. "Wir hoffen, dass die WG ein Modellprojekt wird", so Brönner. Jetzt steht im nächsten Schritt aber erst einmal der Einzug der restlichen Parteien in das Haus und das Zusammenleben mit diesen an.