Einst existierten im Gebiet des heutigen Landkreises 24 jüdische Ansiedlungen oder vollständige Gemeinden. Es gab kaum eine Ortschaft, in der nicht jüdische Kleinhändler ihre Waren anboten oder mit den Bauern Viehgeschäfte abschlossen. Die jüdischen Betsäle, Synagogen, Tauchbäder und Friedhöfe haben in den mainfränkischen Dörfern charakteristische Spuren hinterlassen und prägen das Ortsbild bis heute.
Die jüdische und christliche Kultur entwickelten sich über viele Jahrhunderte miteinander und beeinflussten sich wechselseitig in einem Ausmaß, das uns heute kaum mehr bewusst ist. Bereits aus dem Hochmittelalter gibt es schriftliche Hinweise auf Juden im Gebiet des heutigen Landkreises. Vor allem in den damaligen Handelszentren Karlstadt, Gemünden und Lohr, aber auch in Arnstein, Rieneck, Rothenfels und Homburg ist ihre Anwesenheit belegt. Diese frühen jüdischen Siedlungen wurden durch Verfolgungen in den Jahren 1298 oder 1336 vernichtet und ihre Gemeindeeinrichtungen zerstört. Von ihrer Anwesenheit zeugen vor allem die Memorbücher, Verzeichnisse über die bei den mittelalterlichen Pogromen erschlagenen Juden.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es keine jüdische Gemeinden in den Städten. In den Dörfern, Märkten und kleinen Amtsorten im Gebiet des heutigen Landkreises jedoch konnte sich zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert das Landjudentum entwickeln. Vor allem die Freiherren von Thüngen, die von Hutten, die Grafen von Wertheim, die Voite von Rieneck oder auch das Würzburger Juliusspital waren neben anderen an der Ansiedlung von Juden sehr interessiert.
Sie verknüpften damit die Erwartung einer Förderung der ökonomischen Entwicklung ihrer Besitztümer. Schließlich verfügten Juden über weitreichende Beziehungen, waren oft in größeren Städten auf Messen unterwegs und konnten alle Art von Waren in die Dörfern liefern oder Produkte aus den Dörfern überregional vermarkten. Nicht zuletzt profitierten die Herren aber von den beträchtlichen zusätzlichen Steuereinnahmen, die sie durch Schutzgelder, Zölle, Mieteinnahmen und vielfältige Sonderabgaben von Juden erheben konnten.
In Thüngen und Heßdorf fast 40 Prozent Bevölkerungsanteil
In Thüngen konnte sich eine der größten jüdischen Gemeinden in Unterfranken entwickeln, hier lebten bis zu 350 jüdische Frauen, Männer und Kinder mit einem Bevölkerungsanteil von fast 40 Prozent. Aber auch in Heßdorf, das ebenfalls den Freiherren von Thüngen unterstand, lebten im Jahr 1830 fast 40 Prozent Juden. Weitere große Gemeinden mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil entstanden in Mittelsinn (225 Menschen), Urspringen (220 Menschen) und Laudenbach (179 Menschen).



Die christliche Bevölkerung ernährte sich überwiegend von der Landwirtschaft und dem Handwerk –beide Erwerbsquellen waren Juden bis zum 19. Jahrhundert verboten. Die einzige Möglichkeit des Broterwerbs für sie waren der Handel, die Pfandleihe oder die überaus konfliktträchtigen Kreditgeschäfte. Juden waren über die Jahrhunderte gezwungen, mit allem zu handeln, was die Bevölkerung auf dem Land brauchen konnte oder vermarkten wollte.
Am meisten verbreitet war der Handel mit Rindern, Pferden und Nutztieren, viele Familien spezialisierten sich auch auf Tuchwaren, Wein, Altkleidern und Lumpen, Alteisen, Honig und Wachs oder Gebrauchsgegenstände. Man konnte beim jüdischen Händler bestimmte Waren bestellen oder man bediente sich aus dem Bestand der im Dorf vorbei ziehenden jüdischen Männer, die auf Tragekörben ihre Waren von Haus zu Haus brachten und der Dorfbevölkerung feilboten.
Anders als christliche Bauern mussten jüdische Händler überaus mobil sein, sie waren ständig unterwegs, um Waren einzukaufen oder abzusetzen, sie wussten, wer etwas anzubieten hatte und wer in welcher Ortschaft etwas brauchen konnte. Die tägliche Kilometerleistung eines jüdischen Händlers war enorm. Damit stellten jüdische Kleinhändler die Grundversorgung der bäuerlichen Bevölkerung auf dem Land sicher. Vor allem der Viehhandel war nahezu ausnahmslos in der Hand jüdischer Geschäftsleute.
Die „steinernen Zeugnisse“ jüdischer Kultur
Auf dem Gebiet des Landkreises Main-Spessart gab es nicht weniger als 16 Synagogen, nicht eingerechnet die vielen Betsäle in Privathäusern, die vor allem in kleinen Gemeinden eingerichtet wurden. Nur vier von ihnen sind als Synagogengebäude erhalten geblieben: die Häuser in Arnstein, Wiesenfeld und Urspringen wurden restauriert und werden von Fördervereinen als Erinnerungsorte mit kulturellem Angebot genutzt. Die Synagoge in Laudenbach soll in der nächsten Zeit baulich gesichert und saniert werden.

In Thüngen, Karbach, Lohr und Karlstadt wurden die ehemalige Synagogen zu Wohnhäusern umgebaut, in Karbach wird die ehemalige Synagoge in der Ortsmitte als Rathaus genutzt. Die anderen Synagoge wurden vollständig zerstört, an sie erinnern heute Gedenktafeln.
Mikwen waren eine Besonderheit und spielten eine große Rolle
Eine Besonderheit im Judentum stellen die Tauchbäder (Mikwen) dar. Im Wesentlichen besteht eine Mikwe aus einem gemauerten Becken, das mit Grundwasser oder fließendem Wasser gespeist wird. In diesem reinen Wasser muss man mit dem Körper drei Mal vollständig untertauchen, um in den Zustand der spirituellen Reinheit zu gelangen. Vor allem Frauen nutzten diese Bäder nach der Menstruation, aber auch Männer vor dem Sabbat oder nach dem Kontakt mit einem Verstorbenen.
Da spirituelle Reinheit zu den unabdingbaren Gesetzen im Judentum zählt, waren Mikwen auch für kleine jüdische Ansiedlungen unverzichtbar. Man muss davon ausgehen, dass sich in fast allen Dörfern des Landkreises, in denen Juden über eine längere Zeit ansässig waren, Mikwen befanden. Oft waren sie in Kellern von Privathäusern untergebracht. Die kleinen beheizbaren Mikwenhäuschen, wie sie heute noch in Karbach und Laudenbach erhalten sind, entstanden erst im 19. Jahrhundert.

Zwei große Friedhöfe in der Region
Die beiden jüdischen Friedhöfe im Main-Spessart-Gebiet befinden sich in Karbach und Laudenbach. Der zirka 0,4 Hektar große jüdische Friedhof in Karbach stammt aus dem Jahr 1819. Dort liegen 344 Verstorbene begraben. Auf dem 1,6 Hektar großen Verbandsfriedhof in Laudenbach befinden sich 3500 Grabstellen. Verstorbene aus dem gesamten Gebiet des heutigen Landkreises und darüber hinaus wurden hier beerdigt. Die Begräbnisstätte wurde bereits um das Jahr 1600 angelegt und mehrfach erweitert. Zur Zeit werden alle Grabsteine fotografiert und dokumentiert, um die zunehmend verwitternden Inschriften für die Nachwelt zu erhalten.

Auf den Grabsteinen findet man zur Würdigung des Verstorbenen von Angehörigen abgelegte kleine Steine. Anders als im Christentum gilt das Grab eines jüdischen Verstorbenen als unantastbar, es wird kein zweites Mal belegt. Deshalb kauften die Gemeinden den Grund für ihre Friedhöfe auf ewig.
Wie lebten Juden und Christen in den Dörfern zusammen?
In manchen Ortschaften wurden den jüdischen Familien Wohnungen in Gebäuden ihrer Territorialherren zugewiesen. In Weickersgrüben und in Laudenbach wohnten sie in den Schlossgebäuden der Herrschaft, in Karlburg in einem Freihof des Juliusspitals. In der Regel lebten Juden mit ihren christlichen Nachbarn in den Dörfern Tür an Tür, sie begegneten sich täglich auf den Straßen oder im Wirtshaus und machten Geschäfte miteinander. Darüber hinaus aber blieben sich Juden und Christen weitestgehend fremd.
Häufige Konflikte über misslungene Kreditgeschäfte und das durch die Kirche immer wieder genährte Misstrauen gegenüber Juden als angebliche Christenfeinde und „Gottesmörder“ ließen Ressentiments entstehen, die in der Bevölkerung über Generationen tradiert wurden und sich im kollektiven Bewusstsein tief verwurzelten.
Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Juden den Christen gleichgestellt. Sie erhielten bürgerliche Rechte, es wurde ihnen Niederlassungsfreiheit gewährt, einer Integration in die bürgerliche Gesellschaft stand zumindest theoretisch nichts mehr im Wege. Juden verstanden sich nun als Deutsche jüdischen Glaubens, sie eröffneten Geschäfte und Läden, arbeiteten in den dörflichen Vereinen mit und beteiligten sich aktiv als Gemeinderäte in den politischen Gemeinden. Durch die Niederlassungsfreiheit bekamen viele Familien die Chance, sich in Städten und Ortschaften mit größeren jüdischen Gemeinden und besseren wirtschaftlichen Bedingungen anzusiedeln. Viele kleine Gemeinden lösten sich auf, dafür entstanden in den vier großen Landkreisstädten neue jüdische Gemeinden.
Die Integrationsbemühungen der Juden in die christliche Mehrheitsgesellschaft und ihre wachsende Teilhabe am politischen und kulturellen Leben vermochten den weit verbreiteten Antisemitismus nicht zu mindern. Auf dem Nährboden von über die Jahrhunderte gewachsenen Vorurteilen entstand in breiten Teilen der Bevölkerung der nationalsozialistische Judenhass. Die Pogrome am 9. und 10. November 1938 trafen 16 noch bestehende Gemeinden im Landkreis.
Synagogen wurden niedergebrannt, Häuser zerstört, jüdische Männer und Frauen misshandelt und in Konzentrationslager verschleppt. Diejenigen, denen die Flucht aus Deutschland danach nicht rechtzeitig gelang oder die zu arm waren um fliehen zu können, wurden deportiert und ermordet. Kaum einer der Überlebenden kam in seine alte Heimat zurück.
Der tief verwurzelte Antisemitismus zerstörte nicht nur eine über Jahrhunderte gewachsene, blühende jüdische Kultur in Main-Spessart, er vernichtete unwiederbringlich auch ein Stück eigener unterfränkischer Identität und Lebensart. Es liegt an uns, sorgsam mit dem jüdischen Erbe umzugehen, damit die Erinnerung an die einstigen Nachbarn wach bleibt und wir immer wieder lernen zu verstehen, dass kulturelle Vielfalt und Toleranz unverzichtbare Bausteine für eine freie und lebenswerte Gesellschaft sind.
Zum Autor: Georg Schirmer ist erster Vorsitzender des Förderkreises ehemalige Synagoge Laudenbach e.V. und beschäftigt sich seit Jahren mit der Erforschung jüdischer Geschichte.
Literatur: Brand, Harm-Hinrich (Hrsg.): Zwischen Schutzherrschaft und Emanzipation. Studien zur Geschichte der mainfränkischen Juden im 19. Jahrhundert. Mainfränkische Studien Band 39. Würzburg 1987 S. 19 – 137; Ophir, Baruch Zvi und Wiesemann, Falk (Hrsg.): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 – 1945. München 1979. Scherg, Leonhard: Jüdisches Leben im Main-Spessart-Kreis. Orte – Schauplätze – Spuren Haigerloch 2000; Schwierz Israel: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens. München 1992, 2. Auflage; Viele wertvolle Informationen über die jüdischen Gemeinden in Main-Spessart bekommt man auf den Internetseiten von www.alemannia-judaica.de